Health/20.12.2022

Mind the Hype: Wenn Achtsamkeit toxisch wird

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Spitzenleistungen ohne Mindfulness abrufen – schwierig. Aber wie viel Achtsamkeit ist notwendig, wie hilft sie beim Erreichen sportlicher Ziele, ab wann wird sie toxisch und warum das Konzept oft missverstanden wird – wir haben die Antworten.

Präsent im Augenblick: so übst du Achtsamkeit

Mentale Stärke für das Erreichen sportlicher Ziele ist wichtig, ein Baustein davon ist Mindfulness. Um die richtige Balance zwischen motivierendem Ansporn und ungesundem Ehrgeiz zu finden, gilt es einiges im Training zu beachten. Internationale Studien zeigen nämlich auch, dass Achtsamkeit und Selbstfürsorge keine Selbstläufer sind. Im Gegenteil, sie können psychische Probleme verstärken. Der amerikanische Psychologe Dr. David Udelf verwendet den Begriff Achtsamkeit überhaupt nicht, weil er bei so vielen Menschen negativ besetzt sei. „Warum hat er in der Öffentlichkeit einen negativen Beigeschmack? Weil die meisten Praktiker, die ihn verwenden, den Zweck nicht erklären.“

Was bedeutet Mindfulness?

Achtsamkeit ist ein Zustand der aktiven, offenen Aufmerksamkeit für die Gegenwart. Dieser Zustand wird als Beobachtung der eigenen Gedanken und Gefühle beschrieben, ohne sie als gut oder schlecht zu bewerten. So lautet die Definition der Fachzeitschrift Psychology Today.

„Das Problem mit der Achtsamkeit ist das Missverständnis ihres Zwecks durch Fachleute. Der Zweck ist nicht, sich besser zu fühlen“, sagt der renommierte Psychologe Dr. David Udelf. Das wäre das Gegenteil von Contextual Behavioral Science (CBS) und Acceptance and Commitment Training (ACT), einem Ansatz, der die Praxis der Leistungspsychologie und der klinischen Psychologie nach seinen Worten revolutioniert. Denn: CBS und ACT würden nicht versuchen, störende Emotionen und Gedankenschwankungen zu beseitigen. ACT trainiere die „psychologische Flexibilität“, die Fähigkeit, effektiv mit unerwünschten Gedanken, Emotionen und Körperempfindungen umzugehen.

Dr. David Udelf beim Interview mit ISPO.com
Bildcredit:
Dr. David Udelf

Der eigentliche Zweck des „Fokussierungstraining“ besteht nach Worten von Dr. Udelf darin, Menschen – in diesem Fall Sportler*innen – zu ermöglichen, präsent und im Augenblick zu sein. „Damit sie das tun können, worauf es ankommt: Die Handlungen auszuführen, die für die Ausführung der Fähigkeiten erforderlich sind, für die sie trainiert wurden.“ 

Denn Sportler*innen aller Alters- und Leistungsklassen erleben unerwünschte Gedanken und Gefühle oder auch Müdigkeit und Muskelkater, die sie ablenken und ihre optimale Leistung beeinträchtigen können. Sich mit diesen Dingen zu beschäftigen oder zu versuchen, sie zu ignorieren oder zu ändern, das sei eine Falle, in die viele Sportler*innen tappen. Dies führe zu einem inneren Kampf, der diese inneren Ablenkungen noch verstärke. Sein Rat: Sich auf die Handlungen und Fähigkeiten zu konzentrieren, die für eine erfolgreiche Leistung notwendig sind. Dies sei weitaus effektiver, „als sich mit dem inneren Kram herumzuschlagen“.

Die Balance finden: Realistische Ziele setzen

Bei Tristyle, dem sportwissenschaftlichen Trainingsinstitut der Österreicherin Lissi Niedereder, steht zuallererst ein Gespräch auf dem Plan, um herauszufinden, welche Ziele die Kund*innen im Kopf haben. Als Zweites folgt ein mehrstufiger Laktattest. Dieser sei die Grundlage für jeden Trainingsplan – egal ob Wettkampf- oder Gesundheitssportler*in. „Und damit ist vieles schon obsolet, denn manche kommen ja mit Zielen, die komplett unrealistisch sind.“ Und dann sei es ihre Aufgabe, die Werte zu interpretieren und eine Prognose zu erstellen – in Bezug auf mittel- und langfristige Ziele.

Ex-Profisportlerin Lissi Niedereder beim Trailrunning
Bildcredit:
Tristyle

Für Extrembergsteiger David Göttler sei es „immer wichtig, reflektieren zu können und sich ehrlich einzuschätzen“. Das brauche er, um sich weiterzuentwickeln und gesund zu bleiben. „Ich kann mir gerne sehr große und im Augenblick unerreichbare Ziele setzen, muss dann aber auch akzeptieren, dass ich hier sehr lange brauchen werde, diese zu erreichen.“ Der Deutsche empfiehlt deshalb: Ziele in verschiedene Kategorien zu unterteilen. „Das sind einmal die ganz großen, die manchmal viele Jahre oder sogar ein ganzes Leben brauchen, um verwirklicht zu werden.“ Dann gebe es natürlich auch die kleinen Tagesziele, wie eine Trainingseinheit gut abzuschließen oder einfach einen Ruhetag entspannt einzuhalten. „Und eben alles dazwischen“, sagt der Profi-Bergsteiger lachend, der weiß, von was er spricht: Im Mai dieses Jahres erreichte er den Gipfel des Mount Everest ohne Zuhilfenahme von künstlichem Sauerstoff – im dritten Versuch.

Ähnlich wie Göttler macht es Abenteurer Jonas Deichmann, der 2021 die Welt im Triathlon umrundete: „Ich breche die großen Ziele in kleinere Ziele herunter. Wenn Tag 1 die Hölle war im Schwimmen, dann sage ich nicht, das waren jetzt gerade mal zehn Kilometer und es folgen noch 450 Kilometer. Das ist extrem demotivierend. Das Ankommen ist meine Vision. Mein Ziel aber ist der nächste Felsen, die nächste Tankstelle, der nächste Schokoriegel. Ich schwimme halt immer zum nächsten Schokoriegel."

Geht es auch mal ohne Ziel?

Ob Leistungs- oder Gesundheitssportler*in – jeder trainiert anders. Aber jedes sportliche Training beinhaltet Ziele. Egal ob das Ziel ist, einen Zehn-Kilometer-Lauf in einer bestimmten Zeit zu schaffen oder drei Kilometer am Stück zu joggen. Ganz ohne Ziel funktioniert es bei den wenigsten. „Damit fahre ich persönlich nicht so gut“, gibt Alpinist Göttler offen zu. Er brauche ein Ziel. „Und da gibt es dann bei mir eben große, kleine und Zwischenziele. So kann ich immer zielgerichtet trainieren und meine Motivation ist schön hoch. Außerdem weiß ich, wie und was ich trainieren muss, worin ich mich verbessern muss. Ohne Ziel würde mir hier der Kompass fehlen, in welche Richtung ich arbeiten muss.“ 

Lissi Niedereder, ehemalige österreichische Spitzensportlerin und heutige Trainerin, beschreibt die Krux mit dem Ziel so: „Spätestens seit März 2020 wissen wir: Sport ergibt auch Sinn, ohne einen Wettkampf als Ziel zu haben. Durch den Corona-Lockdown verschoben sich viele Saisonziele auf einen späteren Zeitpunkt. Einige meiner Athleten hatten es nicht leicht, das zu verkraften, da der Wettkampf ja auch die Belohnung für das monatelange und teilweise harte Trainingsprogramm ist.“ Aber Gesundheitssportler*innen hätten diese Zeit genossen, denn sie „waren froh, endlich genug Zeit fürs Training, die Erholung und eine ausgewogene Ernährung zu haben“.

Bewusst Grenzen verschieben – das kann auch Spaß machen

„Für mich stand die Freude immer im Vordergrund“, betont Olympiasieger Christian Schenk. „Also wenn mir einer erzählt, dass Profisport eine psychische Belastung ist, dann finde ich den Ansatz falsch. Natürlich sage ich in meinem Buch, dass Schmerz und Sport für mich wie siamesische Zwillinge sind. Wir Hochleistungssportler sind halt alle Masochisten. Und natürlich musst du im Individualsport ständig eine Grenzverschiebung vornehmen.“  

Bei Deichmann sind 95 Prozent Kopfsache. „Das Limit bin nur ich“ – ist nicht nur der Titel seines Buches, sondern diese Botschaft richte sich an jede*n. „Ich bin einfach immer überzeugt, dass ich etwas schaffe. Und wenn man einen Traum hat, fest daran glaubt, und positiv ist, dann kann man so viel mehr erreichen, als man für möglich hält."

Der deutsche Abenteurer Jonas Deichmann beendet seinen Triathlon um die Welt in München
Bildcredit:
Pheline Hanke

Um beim Grenzen verschieben gesund zu bleiben, empfiehlt Dr. Udelf: „Aktivieren Sie sich nach einem Erfolg oder Misserfolg und konzentrieren Sie sich auf den Prozess. Was sind die Maßnahmen, die Sie ergreifen werden? Nach dem Spiel oder Wettkampf – Sieg, Niederlage oder Unentschieden – ermitteln Sie, was Sie verbessern müssen (Leistungsziele) und was Sie üben oder trainieren müssen, um diese Ziele zu erreichen (Prozessziele).“ Und fügt hinzu: „Wenn es hart auf hart kommt, werden die Harten aktiv.“

Achtsamkeit minimiert das Verletzungsrisiko

Laut aktuellen Studien, unter anderem des American College of Sports Medicine, gibt es Hinweise darauf, dass das Verletzungsrisiko und die sportliche Leistung erheblich vom Wohlbefinden abhängen. Neuere Forschungen haben untersucht, wie Achtsamkeit die sportliche Leistung steigern, die psychische Gesundheit von Sportler*innen verbessern, das Verletzungsrisiko verringern und sogar die Genesung von Verletzungen erleichtern kann. Weitere Studien beweisen, dass der Einsatz einer psychologisch fundierten Intervention durch Sporttrainer*innen und Sportterapeut*innen die Zahl der Verletzungen bei Sportler*innen wirksam verringern kann. Auch Sportmediziner*innen können Athlet*innen dabei helfen, Stress zu reduzieren, die Achtsamkeit zu erhöhen und sich der psychischen Gesundheit zu widmen, um das Verletzungsrisiko zu verringern (Quelle: Journal of Sport Rehabilitation).

Vorsicht: Achtsamkeit kann toxisch werden

„Die potenziellen Gefahren der Achtsamkeit: Die Fakten über Achtsamkeit, über die niemand spricht“, schreibt Dr. Jason N. Linder in einem Artikel für Psychology TodayAchtsamkeit sei zu sehr gehyped, missverstanden und übermäßig kommerzialisiert worden. „Es wird weitestgehend ignoriert, dass bereits in mehr als 20 veröffentlichten Berichten oder Studien Achtsamkeits- oder Meditationserfahrungen beschrieben wurden, die so ernst oder beängstigend waren, dass sie eine zusätzliche Behandlung oder medizinische Aufmerksamkeit nach sich zogen“, betont Dr. Linder. Insbesondere bei Menschen mit Traumata und Depressionen könne Meditation zu einer Verschlechterung ihrer mentalen Gesundheit führen. Darauf hätten sowohl die American Psychological Association ebenso wie das US-amerikanische National Institut of Health (NIH) hingewiesen

Kein Allheilmittel: Achtsamkeitsübungen können Probleme verschlimmern
Bildcredit:
Keegan Houser / Unsplash.com

Der Psychologe warnt: „Achtsamkeit zu üben, wenn man geistig nicht bereit ist, oder wenn man eigentlich ein Nickerchen, etwas zu essen, eine Massage, die Arbeit oder ein wichtiges Gespräch mit einem geliebten Menschen braucht, kann eindeutig mehr Schwierigkeiten verursachen, als es eigentlich abschwächen soll.“ Zudem sei die Achtsamkeitsmeditation nur eines von vielen Instrumenten, Praktiken und Strategien zur Förderung von Wohlbefinden, Bewusstsein und Ruhe. Dr. Linder empfiehlt daher: „Es ist wichtig, dass Sie einige andere in Ihrem Werkzeugkasten haben und lernen, wann Sie die anderen lernen oder üben sollten und wann nicht.“

Extrembergsteiger David Göttler arbeitet regelmäßig mit einer Mentaltrainerin, und meint: „Je sensibler und ehrlicher man mit sich selbst ist, reflektieren kann, was seine Schwächen sind, und auch immer wieder ehrlich den Status quo abfragt, desto besser und zufriedener wird man seine Ziele erreichen.“

Achtsamkeitsübungen für den (Sport-)Alltag

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Achtsamkeit oder „Fokussierungstraining“ wie Dr. Udelf es nennt, „darauf abzielt, präsent zu werden, damit wir auf das achten können, was wir tun. Es ist nicht dazu gedacht, sich besser zu fühlen, obwohl es beruhigend sein kann, aber das ist nicht der Hauptzweck“.

Um abzuschalten und Stress abzubauen, findet Ex-Profisportlerin Niedereder achtsames Laufen ideal. Die 26-fache österreichische Staatsmeisterin hat sich nach ihrem Karriereende und dem Verstoß gegen das Dopinggesetz noch einmal verstärkt mit dem Thema Achtsamkeit auseinandergesetzt. „Wichtig ist, dass man zumindest 30 Minuten unterwegs ist, damit zum Beispiel die Stresshormone abgebaut werden können. Deshalb ist der Ausdauersport so dankbar.“ Es sei zwar auch „super“, sich bei einem hoch intensiven Krafttraining (HIT) zehn Minuten auszupowern, „aber oft hat man dadurch nur mehr Stress“. Und langsames, ruhiges Laufen sei einfach ideal.

Achtsamkeit trainieren: Langsam laufen und den Duft der Wälder wahrnehmen
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Nathalie Desiree Mottet / Unsplash.com

Seit vielen Jahren beschäftigt sich Dr. Tatjana Reichhart, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, mit dem Thema Selbstfürsorge und Achtsamkeit. Erst kürzlich erschien ihr zweites Buch „Selbstbestimmt: Wie wir mit Erwartungen umgehen und ein authentisches Leben führen“. Sie empfiehlt für den (Sport-)Alltag exemplarisch folgende Achtsamkeitsübungen: 

  1. Jeden Morgen und Abend beim Zähneputzen sich selbst fragen: Wie geht es mir körperlich? Wie fühle ich mich (psychisch, mental)? Was brauche ich also?
  2. Den Abend mit einem positiven Tagesrückblick ausklingen lassen. Was lief gut und welchen Anteil hatte ich daran? Wenn die Gedanken abschweifen, zum Beispiel ins Negative – was hat nicht geklappt oder was ist noch zu tun (also Gedanken in die Vergangenheit oder Zukunft) – dies bemerken und sich wieder fokussieren auf: Was lief gut?
  3. Sport immer wieder als Achtsamkeitsübung ohne Trainingsziel zu nutzen: beispielsweise beim Schwimmen oder Trailrunning. Dann heißt es, die Sinneseindrücke wahrzunehmen, und den Fokus darauf zu lenken, was man sieht (Wald, Bäume) oder spürt (Wasser, Boden unter den Füßen), was man riecht oder hört. Also weg vom spezifischen Ziel, hin zur reinen Wahrnehmung im Hier und Jetzt ohne Bewertung.
  4. Im Alltag: weg vom Multitasking hin zu eins nach dem anderen! Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich ein Buch lese, dann schaue ich nebenher nicht noch aufs Handy. Wenn ich mit jemandem spreche, dann höre ich aufmerksam zu. Dies steigert die Fähigkeit, seinen Fokus zu halten, gibt Energie und reduziert Stress oder Gefühle der Fremdbestimmung.
  5. Beim Sport gilt dasselbe. Das, was ich gerade tue, tue ich mit voller Aufmerksamkeit. Wenn die Gedanken abdriften, dann bemerke ich das und komme mit meiner Aufmerksamkeit wieder zurück auf meinen Fokus.
Dr. Tatjana Reichhart beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Mindfulness
Bildcredit:
Dominik Rössler