Bildcredit:
Unsplash/Altin Ferreira
Bildcredit:
Unsplash/Altin Ferreira
Find the Balance/22.08.2022

Pillenlos glücklich? Sporttherapien gegen psychische Erkrankungen

Wir benötigen Ihre Zustimmung, um die Bewertungsfunktion zu aktivieren!

Diese Funktion ist nur verfügbar, wenn eine entsprechende Zustimmung erteilt wurde. Bitte lesen Sie die Details und akzeptieren Sie den Service, um die Bewertungsfunktion zu aktivieren.

Bewerten
Merken

Sport beugt nicht nur Krankheiten vor, sondern wird inzwischen auch in der Therapie psychischer Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie eingesetzt. Wie sehr kann Sport dabei wirklich helfen? Steigert er nur das Wohlbefinden oder kann er sogar Medikamente ersetzen?

Die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO sind besorgniserregend: Laut ihrem im Juni 2022 veröffentlichten Bericht über mentale Gesundheit leben weltweit fast eine Milliarde Menschen mit einer psychischen Krankheit – fast jeder achte Mensch der Welt.

In Deutschland erfüllt laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sogar mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Zu den häufigsten gehören demnach Angststörungen, Depressionen oder Störungen durch Alkohol- oder Medikamentengebrauch.

Eine gewaltige Belastung in erster Linie für Erkrankte, aber auch für Gesellschaft und Gesundheitswesen.

Lauftherapien gegen Depressionen

Dass regelmäßige Bewegung und Sport prophylaktisch nicht nur vor Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Störungen, Diabetes, schweren Corona-Verläufen oder eben auch psychischen Erkrankungen helfen, ist kein Geheimnis. Weniger geläufig ist jedoch, wie erfolgreich Sport auch in der Therapierung eingesetzt werden kann.

Waldläufe und Jogging gegen Depressionen – bewegt man sich da nicht in gefährlichem Homöopathie-Fahrwasser? Im Gegenteil: Immer mehr Praxen und Therapeut*innen bieten inzwischen Lauftherapien an. Zahlreiche Studien belegen, dass vor allem Ausdauersportarten wie Joggen, Walken oder Radfahren in der Therapierung von leichten Depressionen geeignet sind. Sie erhöhen den Spiegel des Belohnungshormons Serotonin, verringern die Ausschüttung von Stresshormonen und sorgen so für mehr Wohlbefinden.

„Beim Laufen begreifen die Patienten, dass sie Dinge aus eigener Kraft schaffen können. In den acht Wochen im Wald zeigen sich oft mehr Symptomverbesserungen als nach vielen Sitzungen in der Praxis", sagt Diana Stöckel, Psychologische Psychotherapeutin und ausgebildete Lauftherapeutin: „Jeden Schritt machen diese Menschen dabei aus eigener Kraft. Also können sie ja gar nicht so schlecht sein, wie sie denken."

Vor allem in der Gruppe sei Lauftherapie eine geeignete Stütze in der Behandlung von Depressionen und Angstzuständen, betont eine Sprecherin der Deutschen Stiftung Depressionshilfe: „Der regelmäßige Termin gibt Struktur und wirkt gegen Antriebslosigkeit. Außerdem wirkt die Gemeinschaft stärkend.“

Entwarnung für Jogging-Muffel: Auch andere Sportarten wie Schwimmen, Tanzen oder Yoga können mit dem richtigen Trainingsplan bei der Bewältigung von leichten oder mittelgradiger Depression helfen. Eine norwegische Studie kam sogar zum Resultat, dass ostasiatischer Kampfsport eine bessere Wirkung entfalten konnte als das Auspowern am Home-Trainer. Hier gilt: Je befriedigender die Sportart subjektiv wahrgenommen wird, desto besser.

Ausdauertraining ähnlich wirksam wie Pharmako- oder Psychotherapie

Studien zeigen: Es funktioniert. Laut der Schweizer Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie habe sich ein 3-mal wöchentliches Ausdauertraining von je 40 bis 60 Minuten über mindestens 10 Wochen bei leichten bis mittelgradigen Depressionen sogar als ähnlich wirksam erwiesen wie eine Pharmako- oder Psychotherapie.

Ein australisches Forscherteam empfiehlt mindestens drei Trainingseinheiten pro Woche von je 30 Minuten bei moderater bis starker Intensität über mindestens acht Wochen.

Auch bei der stationären Behandlung von Depressionen sei ein Ausdauertraining mehrmals wöchentlich als Add-on-Therapie sinnvoll und weise einen „signifikant positiven Effekt auf die depressive Symptomatik“ auf.

Selbst in der Behandlung von Schizophrenie, die ihren Ursprung häufig schon in jungen Jahren hat, kann Sport Wunder wirken: Die Europäische Gesellschaft für Psychiatrie (EPA) hat in einer Metastudie eine Reduktion der psychopathologischen Schizophreniesymptome bei regelmäßiger sportlicher Bewegung von moderater bis hoher Intensität über mindestens 90 Minuten pro Woche erwiesen. Mindestens 150 Minuten aerobes Training pro Woche mit moderater bis hoher Identität sei laut der EPA zur therapeutischen Behandlung von Schizophrenie-Patienten wirkungsvoll.

Sport kein Ersatz für Medikation oder Therapie

Die Vorteile der Sport- und Bewegungstherapie liegen auf der Hand: Nicht nur ist sie in der Regel preiswerter als in Forschung und Produktion teure Medikation. Zudem kann ärztlich abgestimmtes Training die Nebenwirkungen einer medikamentösen Therapie entgegenwirken – etwa die Gewichtszunahme durch Antidepressiva ausgleichen. Dazu vermuten Psychologen einen positiven Effekt des Gefühls von Selbstkontrolle und Macht nach Überwindung des inneren Schweinehundes.

Und: Das Sporttreiben als Tätigkeit bietet dringend nötige Ablenkung von Symptomen und selbstzerstörerischen Denkmustern. Wird Depressiven bei jedem Pillenschlucken ihre Krankheit noch einmal schmerzlich vor Augen geführt, kann Sport Therapie und Erfüllung zugleich sein.

Sollte es also zukünftig besser ein Rezept für Laufschuhe statt Medikamente geben? Ganz so einfach ist es nicht. „Es ist gefährlich zu denken, Sport könne eine medikamentöse Behandlung oder Therapie ersetzen“, warnt Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Vielmehr müsse Bewegung ergänzend zu einer Behandlung stattfinden.

Wenn aus Ärzten Fitnesstrainer werden

Denn nicht bei jedem wirkt Sport als Therapie gleich gut. Und: Je nach körperlicher Verfassung ist auch Sporttherapie nicht frei von Nebenwirkungen. „Wenn ich einen schweren Bluthochdruck oder eine Essstörung habe – kann Sport auch negative Folgen haben“, sagt etwa Professor Andreas Ströhle, Leiter der Psychiatrie an der Berliner Charité.

Umso wichtiger ist es, dass Erkrankte nicht eigenmächtig Medikamente absetzen und ihr Heil allein im Waldlauf suchen. Stattdessen gilt es, Möglichkeiten der Sporttherapie mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin oder Therapeuten gemeinsam zu besprechen und so ein ärztlich überwachtes Sportprogramm zu erstellen.

Was für Erkrankte eine Chance ist, ist für das medizinische Fachpersonal eine neue Herausforderung. „Es reicht nicht, den Patienten einfach nur zu sagen: ‚Sie sollten zur Behandlung Ihrer Krankheit Sport treiben‘“, erklärt die US-Sportmedizinerin Anne K. Swisher von der West Virginia University: „Das wäre, als würde man einem Patienten an die Hand geben, ‚einfach ein paar Pillen zu schlucken‘ – kein ernsthafter Arzt würde das machen.“

In der Praxis bedeutet das einen schwierigen Spagat für Ärzt*innen und Therapeut*innen, die plötzlich auch bei der Erstellung von Übungen und Trainingseinheiten oder Trainingssteuerung gefragt sind. Und das trotz des ohnehin schon fatalen Engpasses bei der Versorgung psychischer Erkrankungen.

Mit Depressionen künftig zum Physiotherapeuten?

In Bayern haben laufinteressierte Ärztinnen und Ärzte die Sache in die eigenen Hände genommen und lokale Laufinitiativen für Erkrankte ins Leben gerufen.

Deutschlandweit untersucht ein Konsortium aus Krankenkassen und Forschungseinrichtungen Möglichkeiten, um die psychologische Versorgungslücke in Deutschland durch Sporttherapeut*innen zu schließen. In Schulungen werden Sportwissenschaftler*innen und Physiotherapeut*innen fit gemacht, um für Depressionspatienten mehr als nur Fitnesstrainer zu sein.

„Das bereitet die Therapeuten optimal auf die Betreuung der Patienten vor. Zum Beispiel mit ihnen darüber zu sprechen, was sie sich von der Therapie versprechen – und wie sie dieses Ziel erreichen“, erklärt Dr. Andreas Heißel von der Uni Potsdam, der die Schulung mitentwickelt hat. Von der Sensibilisierung würde auch das Therapie-Personal profitieren: „Es ist wichtig, dass sie ihre eigenen Umgangsmuster erkennen und reflektieren. Das macht sie nicht nur besser, sondern auch zufriedener. Wir sind überrascht, wie sehr die Therapeuten das Angebot annehmen, sich öffnen und einbringen.“

Für psychisch Erkrankte sind Initiativen wie diese vor allem eines: gute Nachrichten! Wer an leichter oder mittelgradigen Depression leidet, hat in den Sporttherapie-Angeboten eine weitere Perspektive auf Genesung. Laufen allein ist kein Allheilmittel, aber es kann sowohl in der Vorbeugung als auch in der Therapie wertvolle Dienste leisten. Schwerdepressive sind zwar weiterhin auf konventionelle Behandlung angewiesen, profitieren dort allerdings von den durch den Sport freigeräumten Kapazitäten.

Fest steht: Ob Sporttherapie, medikamentöse Behandlung, Psychotherapie oder eine Kombination aus alldem – wer sich für eine Behandlung entschieden hat, hat den wichtigsten Schritt bereits getan.

Themen dieses Artikels