Wenn Simon Roth über seine Visionen zur Marktentwicklungen der Physiotherapie spricht, fallen Begriffe wie Health Gyms, Home Assessment und demographischer Wandel. Der 42-Jährige kennt den Markt seit knapp zwei Jahrzehnten als Physiotherapeuten und seit 2021 als Healthtech-Unternehmer: Mit Philipp Piroth gründet er Myoact. Das Startup misst mithilfe von Elektromyographie (EMG)-Sensoren die Kommunikation zwischen Gehirn und Muskulatur – und erstellt daraus individuelle Muskelkarten. Die Technologie visualisiert Schwachstellen und kann prüfen, mit welchen Übungen Patien*innen Zielmuskeln richtig ansteuern. „Im Gegensatz zum Blindflug vieler Übungsverordnungen bieten wir Transparenz und Messbarkeit. Wir sind das Cockpit für gezielte Therapie“, sagt er.
Zu den Nutzenden ihrer Technologie gehören aktuell vor allem Orthopädie- und Physiotherapie-Praxen sowie medizinische Abteilungen von Sportvereinen wie Fußball-Bundesligist Eintracht Frankfurt. Seine Vision: Technologien wie die von Myoact werden Therapie-Journeys ändern (“Vermehrt zuhause”), Fitness, Gesundheit und Therapie zusammenführen (“Dank Tech werden Gyms zu Health Gyms”) und dabei helfen, die Folgen einer alternden und immobilen Gesellschaft abzufedern.
ISPO.com: Welcher Trend beeinflusst eure Arbeit aktuell am meisten?
Simon Roth: Der Gesundheitsmarkt hat ein Überangebot an Patienten, insbesondere durch den demografischen Wandel, aber nicht genug Behandelnde. Gleichzeitig zeigt die Evidenz, dass bei muskuloskelettalen Beschwerden die richtigen Übungen oft wirksamer sind als passive Behandlungen. Unsere Vision: Ein guter Physiotherapeut wird daher noch mehr zum Trainer. Und eine Trainerin, mit entsprechender Qualifizierung, auch eine Therapeutin, die an Patientinnen und Patienten wirkt – und von den Krankenkassen subventioniert wird, um diese Versorgungslücke zu schließen
Welche Rolle spielt dabei der Trend zur Prävention?
Simon: Wir zum Beispiel bieten ein Monitoring-Tool. Es geht nicht darum, sofort Alarm zu schlagen, wenn eine Verletzung unmittelbar bevorsteht, sondern darum, Trends zu erkennen. Wenn sich ein Trend entgegen dem Sollzustand entwickelt, können frühzeitig Warnhinweise kommuniziert werden, um Schmerzen oder Verletzungen vorzubeugen. Das fördert Individualmedizin, wirkt präventiv und entlastet das System, indem es Patientinnen und Patienten zu ihren eigenen Therapeut*innen macht, und ihre Selbstwirksamkeit stärkt

Eure ersten Zielgruppen sind derzeit Orthopäden und Physiotherapeuten. Knapp 250 nutzen eure Technologie, mit welchen Rückmeldungen?
Simon: Ärztinnen und Physiotherapeuten von Profisportler*innen lieben sie, weil sie ihnen hilft, Informationsmehrwerte zu generieren, die sie vorher nur erahnen konnten. Wenn Nutzer Startschwierigkeiten äußern, dann weil sie Angst vor Fehlinterpretationen der App haben. Das Problem ist, dass Fachkräfte Entscheidungen noch oft auf Basis von subjektiven Empfindungen und Hypothesen treffen. Wenn wir ihnen die tatsächliche muskuläre Realität vor Augen führen, kann dies als Überwältigung oder sogar als Hinterfragung ihrer bisherigen Arbeit empfunden werden.
Wie begegnet ihr diesen Ängsten?
Simon: Wir betonen das Konzept des "Clinical Reasoning": Man kombiniert sein bisheriges Wissen und seine Erfahrung mit den neuen Informationen des Tools, um den bestmöglichen Output zu erzielen. Wir fokussieren uns zunächst auf das Biofeedback während einer einzelnen Übung. Der Therapeut klebt die Sensoren auf, um zu sehen, ob die Übung überhaupt ankommt. Das ist ein einfacher, selbsterklärender Mehrwert, der Neugier weckt. Patienten sehen sofort, welche Übungen effektiv im Sinne der neuromuskulären Ansteuerung sind. Mit der Zeit entsteht dann der Wunsch nach standardisierten Testprotokollen, unserem Mapping.
Was muss passieren, damit Praxen standardisiert Sensoren wie eure nutzen?
Simon: Neue Technologien bedeuten zunächst mehr Arbeit und die Notwendigkeit, sich mit Neuem auseinanderzusetzen, was zu Unsicherheit vor dem Patienten führen kann. Top-Elite-Physios sind bereits dabei, aber je breiter man in der Branche geht, desto schwieriger wird dieser Schritt. Deshalb setzen wir stark auf die Ausbildung. Indem wir unser Mindset von Anfang an vermitteln, sind junge Physiotherapeuten noch nicht "komfortzonenversaut".
Während ein Großteil der Gesellschaft immer übergewichtiger wird, definiert ein anderer Gesundheit und Fitness zunehmend als Lifestyle.
Simon: Diese Schere beobachten wir auch. Daten von Wearables zeigen oft nicht die Realität der Gesamtbevölkerung, da diese Geräte primär von bereits intrinsisch motivierten, aktiveren Menschen getragen werden. Präventionsprogramme erreichen oft nicht die Menschen, die sie am dringendsten benötigen.
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Aus eurer Praxis: Was hilft Inaktiven zu ersten Schritten?
Simon: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass datengetriebenes Feedback ein Umdenken bewirken kann, indem es den Menschen einen Spiegel vorhält, ob sie sich in einem ungesunden Zustand befinden. Unsere Sensoren geben sofort Rückmeldung über die Muskelaktivität. So lernt man den eigenen Körper kennen und verbessert die Selbstwirksamkeit. Diese Transparenz und Einordnung motiviert, außerhalb der Komfortzone zu trainieren.
Klingt nach einer simpleren Form von Gamification.
Simon: Ist es. Wir wissen aus Tests zudem, dass Menschen bis zu 10-20% mehr Leistung erbringen, wenn sie ein klares Ziel vor Augen haben, da ein externer Fokus dem internen Fokus überlegen ist.
Ihr sammelt seit über einem Jahrzehnt Daten zum muskulären Zustand der Gesellschaft.
Simon: Mein Mitgründer und ich haben über 15 Jahre lang täglich Patienten mit EMG beobachtet – und Daten aus 50.000 Messungen pseudonymisiert gesammelt. Auf dieser Datenbasis haben wir Korrelationen zwischen einzelnen Muskeln entdeckt, Muster erkannt und daraus Algorithmen entwickelt. Wenn ein Muskel bei bestimmten Bewegungen von gesunden Mustern abweicht, ist das oft ein Faktor für persistierende Schmerzen oder Verletzungen. Diese Beobachtungen validieren wir nun systematisch mit Nutzerdaten und in Kooperation mit Universitäten.
Was wisst ihr dank der langjährigen Datenerfassung zum Beispiel zum Zustand der Rücken-Muskulatur der Deutschen?
Simon: Die großen Rückenstreckermuskeln, die oft trainiert werden, haben kaum Relevanz und sind selten auffällig. Die größten Auffälligkeiten sehen wir stattdessen bei den Beckenmuskeln, insbesondere den seitlichen Gesäßmuskeln (Gluteus medius). Menschen mit Rückenproblemen können diese Muskeln oft nicht ausreichend ansteuern.
Eure Forschung und euer Produkt sind Teil des Business Incubation Center der europäischen Raumfahrtagentur (ESA) CESAH. Warum testet ihr eure Technologie im All?
Simon: Wir entwickeln aktuell im Rahmen des gemeinsamen Förderprojekts mit der ESA einen EMG-Anzug, mit dem wir im Weltraum erforschen werden, wie sich der Körper bei maximaler Inaktivität verhält – und mit welchen Übungen man Muskeln und deren Ansteuerung erhält. Das hilft uns auf der Erde. Unsere Gesellschaft wird zunehmend älter und immobiler. Wie bewegen wir diese Menschen? Es gibt Indizien, dass kurzes Bodybuilder-Posing relevanter Muskeln bei Senior*innen 20% Kraftgewinn bedeuten können. Das reicht, um das neuromuskuläre System am Leben zu erhalten.

Big Tech Firmen drängen auch in diesen Bereich, Meta will mit einem eigenen EMG-Armband die Interaktion mit dem Computer verändern. Was bedeutet dieses Engagement für Myoact als Startup?
Simon: Das ist zunächst einmal gut, weil es die Relevanz des Themas unterstreicht. Wir wollen jedoch den gesamten Körper verstehen und nicht nur einen Controller entwickeln. Wir sehen eine große Zukunft in der Gamification von Muskelfunktionen. Stellen Sie sich vor, in einem Shooter können Sie nur schießen, wenn Sie bestimmte Muskelpartien aktivieren, oder beim Boxen erhalten Sie weniger Schaden, wenn Sie die Bauchmuskulatur anspannen. Wir glauben, dass die Tech-Giganten das auch sehen, aber wir werden die größte Datenmenge im Hintergrund haben, die sagt, was gegen Schmerzen funktioniert – und was nicht.
Könnte Europa hier einen Trend verschlafen?
Simon: Ich sehe nicht, dass wir den Trend verschlafen. Wir sind der einzige EMG-Hersteller, der nach standardisierten Prozessen Daten von Patienten in echten Praxen erhebt. Die Gefahr besteht eher darin, dass wir irgendwann gezwungen sein könnten, in die USA abzuwandern, da dort die Investitionsbedingungen und Bewertungen deutlich attraktiver sind. Ich bin Europapatriot und möchte, dass dies hier bleibt, aber die politischen Rahmenbedingungen und Förderungen in Deutschland/Europa sind oft schwierig.
Wie verändern Technologien wie eure den Markt? Geht der Trend hin zur eigenen Therapie zuhause?
Simon: Das ist unsere Vision. Wir hoffen, das System dadurch zu entlasten. Es bedeutet nicht, dass Physiotherapeuten überflüssig werden, aber sie können sich gezielter und mit mehr Zeit dem manualtherapeutischen Aspekt widmen. Alles, was ins Selbstmanagement, die Selbstwirksamkeit und das Training fällt, liegt dann in der Verantwortung des Patienten – unterstützt durch Tools. Und mit der Gewissheit, dass alle Bewegungen und Übungen zielgerichtet und messbar sind.
Die Zukunft der Physiotherapie wird durch Daten, Technologie und Gamification neu definiert. EMG-basierte Tools ermöglichen es Patient*innen, ihre Muskeln gezielt zu trainieren und präventiv tätig zu werden. Durch Kombination von Home-Training, digitalem Feedback und interaktiven Übungen können Fitness, Gesundheit und Therapie nahtlos zusammengeführt werden: eine Lösung für eine alternde und zunehmend inaktive Gesellschaft.
ISPO 2025 widmet dem Thema Gesundheit einen eigenen Bereich: Health & Wellbeing teilt sich die Halle B1 mit Digitize & Retail, ISPO Brandnew und Sports Tech Nation. Eine bewusste Nachbarschaft, die starke Synergien schafft. Start-ups aus dem Health-Tech-Sektor treffen hier auf Reail, Plattformen, Wearable-Anbieter und Digitalisierungsexpert*innen. Hier werden innovative Lösungen nicht nur präsentiert, sondern erlebbar macht. Vom 30. NOV. - 02. DEZ. in München. Sei dabei!

- Technologie entlastet das System: Datenbasierte Tools reduzieren die Arbeitslast von Physiotherapeut*innen und unterstützen präventive Maßnahmen.
- Physiotherapeut*innen werden Trainer*innen: Profis kombinieren klinisches Wissen mit Technologie, um Therapieergebnisse zu verbessern.
- Home-Based Assessment gewinnt: Patient*innen führen zunehmend Übungen zu Hause durch, unterstützt von digitalem Monitoring.
- Gamification steigert Motivation: Spielähnliches Feedback erhöht die Leistungsbereitschaft und Therapietreue.
- Daten schaffen Transparenz: EMG-Sensoren erstellen personalisierte Muskelkarten, helfen bei Leistungsüberwachung und Verletzungsprävention.
- Integration von Fitness & Therapie: Health Gyms und therapeutische Angebote verschmelzen und eröffnen neue Marktchancen.
- Big Tech zeigt Relevanz: Der Einstieg großer Technologieunternehmen unterstreicht die Bedeutung digitaler Gesundheitslösungen.
- Forschung & Evidenz zählen: Langfristige Datensammlung ermöglicht Einblicke in die Muskelgesundheit der Bevölkerung und treibt Innovationen voran.
- Selbstmanagement gestärkt: Patient*innen übernehmen Verantwortung für ihre Gesundheit, unterstützt durch messbare und gezielte Interventionen.
- Marktchance für Innovation: Start-ups und Sportorganisationen können Technologie nutzen, um auf die Bedürfnisse einer alternden und weniger aktiven Gesellschaft einzugehen.
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