Wassersport/20.09.2016

Kajak-Ass Rafa Ortiz und die Niagara Falls: „Als ich ihn leblos liegen sah...“

Wir benötigen Ihre Zustimmung, um die Bewertungsfunktion zu aktivieren!

Diese Funktion ist nur verfügbar, wenn eine entsprechende Zustimmung erteilt wurde. Bitte lesen Sie die Details und akzeptieren Sie den Service, um die Bewertungsfunktion zu aktivieren.

Bewerten
Merken

Mit dem Kajak die Niagarafälle runter? Wenn's weiter nichts ist. Mit „Chasing Niagara“ ist aus dem verrückten Plan des Mexikaners Rafa Ortiz ein Kinofilm entstanden, mit atemberaubenden Aufnahmen, aber ohne Weltrekord – was bei Sponsor Red Bull angeblich niemanden stört.

Kajak-Ass Rafael Ortiz in seinem Element
Kajak-Ass Rafael Ortiz in seinem Element

Der Film „Chasing Niagara“ läuft seit Ende August in den deutschen Kinos. Er begleitet den Mexikaner Rafa Ortiz bei seinem waghalsigen Plan, mit einem Kajak die Niagarafälle hinunterzustürzen – und zeigt, warum Ortiz im letzten Moment einen Rückzieher machte. ISPO.com sprach mit dem Mexikaner über das Projekt.

 

 

ISPO.com: Herr Ortiz, drei Jahre haben Sie auf das Projekt hingearbeitet, sich mit der Befahrung riesiger Wasserfälle in Mexiko, Brasilien, Oregon und Washington vorbereitet – und sich in der Nacht vor dem finalen Sprung doch dagegen entschieden, als Erster mit einem Kajak die 53 Meter hohen Niagarafälle hinabzuschießen. Was ist seitdem passiert?
Rafa Ortiz: Zuerst hatte ich einen ziemlichen Kater, ein paar Jahre lang sogar. Seit einem Jahr kommt die Motivation zurück, meine Paddel-Karriere voranzutreiben. Momentan bin ich so motiviert wie nie. Wir haben so viel Zeit und Hingabe in dieses Projekt investiert, dass einem dann alles wie „die Zeit danach“ vorkam. Seitdem habe ich praktisch eine neue Karriere begonnen.
Wir hatten drei Jahre gedreht, das gesamte Footage für den Film zurückgehalten, nichts davon auf Facebook oder Instagram gepostet. Und wenn ich jetzt einen verrückten Wasserfall befahre, kann ich das endlich wieder tun, kann darüber reden, mich mit anderen austauschen.

Lesen Sie hier: Freya Hoffmeister – Die Eisverkäuferin, die im Kajak um Südamerika paddelte

Rafa Ortiz: Mutter in Niagara-Pläne nicht eingeweiht

Am Tag X haben Sie der 15-köpfigen Crew Ihre Entscheidung mitgeteilt. Schwierig, oder?
Klar, das war verdammt hart. Je näher Tag X kam, desto mehr stieg der Druck. Der letzte Monat war echt schwer, die letzte Woche kaum noch zu ertragen. Mein ganzes Leben ist in diesen Tagen an mir vorübergezogen. Ich weiß gar nicht mehr, was ich in dem Monat danach gemacht habe. Ich bin heim nach Mexiko und habe versucht, ein bisschen zu chillen.

 

Ihre Eltern waren sicher erleichtert...
Mein Vater schon, meine Mutter wusste nie etwas davon.

Sie haben ihr nichts erzählt?
Kein Wort. Sie hätte zu viel gelitten. Ich war bestimmt zehn oder 20 Mal an den Niagarafällen, und jedes Mal habe ich sie angelogen und ihr erzählt, dass ich zu Meetings nach Toronto muss oder mit Freunden irgendwo rumpaddle.

Und Ihr Vater musste schweigen...
Genau. Aber meine Mutter war die erste, die ich nach der Absage anrief: „Mom, du weißt nichts davon, aber ich wollte die Niagarafälle runterfahren...“ Sie meinte: „Ich wusste, dass du irgendwas Verrücktes vorhast!“

Spanischer Teamkollege wiederbelebt

Der Film ist Juanito und Lou gewidmet. Wer sind die beiden?
Enge Freunde aus Peru und Neuseeland, die unlängst beim Kajaken gestorben sind. So extrem unser Sport auch ist: Die Opferzahlen sind relativ gering. Es ist ein ziemlich sicherer Sport, verglichen zu Basejumpern oder Mountainbikern. Ich paddle seit 15 Jahren, und die beiden waren nun die ersten Freunde, die ich verloren habe.

Im Film war es auch knapp: Ihr spanischer Teamkollege konnte erst in allerletzter Sekunde wiederbelebt werden...
Das war das erste Mal, dass ich dachte: Wow, jetzt ist es soweit. Man denkt immer daran, weiß, dass es passieren kann, hat es zig Mal an einem Plastik-Dummy geübt. Aber als ich ihn so leblos auf dem Felsen liegen sah...Wir hatten verdammt viel Glück, dass er wiederkam, nach vier Minuten. Irgendwann war es mir egal, ob ich ihm jetzt die Rippen breche. Und dann holt er plötzlich tief Luft – es war wie ein Wunder.

 

Rafael Ortiz ist langjähriger Red-Bull-Athlet
Rafael Ortiz ist langjähriger Red-Bull-Athlet
Bildcredit:
Alfredo Martinez/Red Bull Content Pool

Die Aufnahmen seiner GoPro-Kamera, während er leblos unter Wasser trieb, sind schlimm.
Verrückt, oder? Für den Film haben wir den Clip gekürzt. Die komplette Aufnahme ist zehn Minuten lang, und wer sich das komplett anschaut, dem läuft es eiskalt den Rücken runter. Man fühlt mit, was er gerade durchmacht, sieht minutenlang seine reglosen Hände im Wasser, ein kleines Blatt, das langsam vorbei treibt, das alles in einer fürchterlichen Stille.
Als wir ihn dann wiederbelebten, zogen wir ihm den Helm samt Kamera aus – und legten das in unserer Panik unbewusst so ab, dass wir den Überlebenskampf dokumentierten. Das war mit Abstand der verrückteste Tag meines Lebens.

Rafa Ortiz: „Am Ende ging es um Freundschaft“

Hat diese Szene Ihre Entscheidung beeinflusst, die Niagarafälle nicht zu fahren?
Nicht wirklich, vielleicht zusammen mit vielen anderen Erfahrungen, zum Beispiel an den Sahalie Falls. Meine heftigste Nahtod-Erfahrung. Eiskaltes, sehr schnelles Wasser, das dir die Energie in Sekunden aus dem Körper zieht. Diesen Kampf gegen den Fluss hätte ich fast verloren.
Das alles war Teil dieser lebensverändernden Reise, des Reifeprozesses, den ich während der drei Jahre durchgemacht habe. Am Ende ging es nicht wirklich darum, die Niagarafälle zu fahren, sondern darum, etwas über das Leben zu lernen – und über Freundschaft.

Wie meinen Sie das?
Als ich mit 22 dort war und mit 25: Das waren zwei komplett unterschiedliche Menschen. Ich glaube immer noch, dass man die Niagara Falls erfolgreich in einem Kajak befahren kann. Ich bin nicht zurückgetreten, weil es unmöglich ist, sondern weil sich etwas in mir verändert hat. Der Wasserfall ändert sich nicht, ich schon. Es war zunächst ein egozentrisches Rafa-Projekt, und es hat gedauert, bis ich realisiert habe, dass da noch andere Leute involviert sind.

Inwiefern?
Dass das Ganze illegal sein würde, war klar. Ich brauchte zwei Jungs am Fuß der Fälle, um mich da rauszuholen – sie wären todsicher verhaftet worden. Wäre ich bei der Aktion gestorben, wären die beiden wohl für den Rest ihres Lebens in den Knast gewandert, wegen strafbarer Fahrlässigkeit.
Eine Woche vor Tag X habe ich ihnen das nochmal klargemacht, dass sie wegen mir zu Kriminellen werden könnten, und sie sagten nur: „Cool, Mann. Wir sind dabei.“ Das war der Punkt, der mich zum Umdenken brachte. Zu erkennen, dass es nicht nur um mich geht.

 

Ortiz: Idee kam nicht von Red Bull

Am Ende wirken Sie zunächst wie ein Anti-Held, der es nicht geschafft hat, letztlich aber doch wie ein Held, in einem anderen Sinn. Wie hat Ihr Hauptsponsor reagiert?
Ich bin seit sieben, acht Jahren Red-Bull-Athlet, ihre Reaktion war unglaublich. Red Bull ist eine Marke, da geht es ums Geschäft, na klar. Ich als Athlet aber verhandle mit Individuen, mit Menschen. Als ich dort anrief, kam eine sehr warme Antwort: „Entspann dich!“ Auch vorab hieß es immer: „Rafa, bis zur allerletzten Minute: Es ist deine Entscheidung.“
Viele denken immer, dass Red Bull uns zu diesen verrückten Dingen ermuntert. Es ist aber meine Idee, die ich auch ohne Red Bull verfolgen würde.

Der Film entstand auch ohne die finale Klimax, Sie sind immer noch Red-Bull-Athlet...
Ja, ich hatte mir mein Erfolgsszenario schon ausgemalt. Dass ich als Held zurückkommen würde. Das musste ich erst mal verdauen. Danach war meine Botschaft an die nächste Generation eine andere. Obwohl ich nicht erfolgreich war, war ich durchaus erfolgreich – eben auf andere Weise, als ich es mir vorgestellt hatte. Wenn man ein Ziel so versessen verfolgt, realisiert man viele andere Dinge überhaupt nicht.

 

 

Rafa Ortiz' Lebensmotto: „Die exhausted!“

Jedenfalls haben Sie nicht das Felix-Baumgartner-Problem: Der kann seinen Sprung aus der Stratosphäre nicht mehr toppen. Was sind Ihre nächsten Projekte?
Oh, das sind so viele! Viele Jahre habe ich mich nur einem Projekt verschrieben, jetzt habe ich eine absurde Anzahl anderer Ideen: Technologie entwickeln, neue Plätze entdecken, Snowkajaking in Washington, die überfluteten Straßen von Barranquilla befahren, mit dem Kajak in die Wellen von Jaws auf Hawaii, ein unterirdischer Canyon in China, und Kite-Kajaking muss ich auch endlich probieren. Bin gespannt, ob das überhaupt funktioniert.

Ihre Lebensphilosophie?
Die exhausted! Also: lieber erschöpft sterben als gelangweilt. Das ist die größte Angst in meinem Leben. Warum zu Hause sitzen und in die Glotze starren, wenn du raus in die Natur gehen und unglaubliche Dinge tun kannst!

Über Rafael Ortiz:

Der 29-jährige Mexikaner gilt nicht nur in Südamerika als Kajak-Legende. In der Atlantik-Stadt Veracruz lernte Ortiz zu paddeln – in Kanada perfektionierte seine Fähigkeiten und wurde 2005 zum ersten Mexikaner, der an einer Kajak-Freestyle-WM teilnahm. 2012 bezwang der Red-Bull-Athlet als zweiter Mensch (nach Tyler Bradt) den über 57 Meter hohen Palouse-Wasserfall in den USA – Weltrekord!

Mehr Informationen über Rafael Ortiz finden Sie auf seinem Facebook-Profil und bei Instagram. Bei Snapchat ist er als rafaortizkayak aktiv.




Autor: Thomas Becker