Die Schweizerin Jasmin Nunige war Mitte der 90er als Ski-Langläuferin bei Olympia und Weltmeisterschaften, ist mittlerweile eine sehr erfolgreiche Marathon-, Trail- und Ultratrail-Läuferin, hat sieben Mal den völlig zurecht legendären Swiss Alpine K78 gewonnen, 2019 beim 100-Kilometer-Lauf in Hongkong Platz sechs belegt, die Grand Défi des Vosges über 43 Kilometer mehrfach gewonnen – und sie ist seit 2011 an Multipler Sklerose (MS) erkrankt. Und doch behauptet die 45-Jährige: „Ich bin immer noch ein Glückskind.“ Wie bitte?
MS ist unheilbar. Ein Alptraum, gerade auch für Menschen, deren Lebensinhalt schon immer die Bewegung, das Laufen war. So wie für Jasmin Nunige. Nach ihrer Langlaufkarriere lässt sich die Davoserin zur medizinischen Masseurin ausbilden, macht sich selbständig, heiratet Guy Nunige, den ehemaligen französischen Meister über 1500 Meter, bringt mit Björn (2000) und Fiona (2004) zwei Kinder zur Welt – und beginnt wieder mit dem Laufen, am liebsten bergauf und schön lange.
Zwei Mal gewinnt sie den Graubünden-Marathon sowie ein Skyrace in Japan – doch 2011 während einer Laufwoche in Portugal dann der Schock: „Von einer Stunde auf die andere hatte ich Gefühlsstörungen in den Füßen. Es kam mir vor, als wären die Schuhe zu eng“, erinnert sie sich. Sie macht sich keine Gedanken, sondern schnürt lediglich die Laufschuhe lockerer. Doch die Krankheit lässt nicht locker: Am nächsten Morgen kribbelt es bis zu den Oberschenkeln, kurz darauf bis zum Bauchnabel. „Da habe ich zum ersten Mal richtig Angst bekommen, weil ich spürte, dass etwas nicht stimmt.“

Die Diagnose kommt schnell, und sie ist hart: MS, wie schon ihre Mutter. Jasmin Nunige sagt: „Es war ein Schock und zugleich auch eine Erleichterung, weil die Krankheit einen Namen hatte und ich wusste, dass MS kein Todesurteil ist, dass viele MS-Patienten ein weitgehend normales Leben führen können.“
Aber dass MS-Patienten auch Marathons und Bergläufe in persönlichen Bestzeiten würden absolvieren können, das weiß sie da noch nicht. Vielmehr ist da zunächst Angst, Ungewissheit und eine große Hilflosigkeit. Sie vertraut sich einem Therapeuten an und erkennt: „Es gibt keinen Weg zurück. Ich bin an einer Kreuzung angekommen, kann nicht zurück, kann nicht stehen bleiben, sondern muss bis zur nächsten Kreuzung weitergehen – und dann mal schauen.“

Statt zum Laufen geht Jasmin Nunige fortan zum Radfahren, stellt ihre Ernährung um, vermeidet Milchprodukte, Zucker und Weizen. In Absprache mit ihrem Arzt verzichtet sie auf Medikamente, weil sie weiter ihren Körper spüren will. „Natürlich machte ich mir Gedanken, ob das nicht fahrlässig ist. Ich habe eine Familie und möchte nicht riskieren, dass meine Krankheit weiter voranschreitet. Wichtig ist, dass jeder Patient selbst entscheiden kann, was für ihn stimmt. Ich weiß auch, dass ich meinen Krankheitsverlauf immer wieder neu anschauen muss. Vielleicht kommt eines Tages der Moment, wo ich zu einer Behandlung ein Ja habe, zumal es immer bessere, noch gezielter wirksame Medikamente gibt und man immer längere Erfahrungen mit diesen Wirkstoffen hat.“
Sie lernt den Begriff Resilienz kennen - und verinnerlicht ihn, stärkt zusehends ihre psychische Widerstandskraft, um ihre Krise zu bewältigen, um gestärkt daraus hervor zu gehen. Mit der Familie bastelt sie einen Lebensbaum und fragt jeden Tag: „Was tun wir uns heute Gutes?“ Neurolinguistische Programmierungen (NLP) helfen ihr ebenfalls. Sie sagt sich „Heute ist mein Tag!“ Oder: „Das schaffst du!“ Stichwort Visualisierung: „Wie möchte ich wieder sein?“ An das typische MS-Bild im Rollstuhl denkt sie erst gar nicht, weil sie weiß, dass sie mehr Zeit hat als Menschen, die es mit einem Schlag in den Rollstuhl geworfen hat wie den nach einem Sturz querschnittsgelähmten Schweizer Skirennläufer Silvano Beltrametti.

Und siehe da: Es gelingt – und wie! Ihr optimistisches Denken bringt den Erfolg zurück. Schon im Jahr eins nach dem ersten Schub rennt sie wieder Marathons und Bergläufe, gewinnt mehrfach den 78 Kilometer lange Ultratrail namens Swiss Alpine K78, doch die Krankheit hält nicht allzu lange ruhig. Vor der Heim-Europameisterschaft in Zürich 2014 merkt sie: „Ich bin nicht fit und immer nur müde. Diese Müdigkeit war völlig anders als sonst, wenn man aus einem verständlichen Grund nicht mehr mag. Ich hatte eigenartige Muskelschmerzen, wie wenn ich immer kurz davor stand, einen Krampf zu bekommen.“
Eine Magnetresonanz-Untersuchung bringt Gewissheit: neue Entzündungsherde in Gehirn und Rückenmark. Ausgerechnet jetzt, wo sie bessere Leistungen erbringen konnte als je zuvor. „Ich dachte schon, die MS hätte mich vergessen. Und plötzlich stand sie doch wieder vor der Tür, völlig unangemeldet und mit ihrer ganzen Wucht.“ Wieder gegen die Wand gelaufen. Zu akzeptieren, dass die Krankheit wieder da ist, ist nicht einfach für sie. Es braucht diesmal lange, bis sie körperlich regeneriert.

Und dann ist da ja noch die Seele, der Kopf, in dem nun ganz fürchterlich verzweifelte Filme ablaufen. 'Kann ich überhaupt jemals wieder laufen?' Ein Teil ihrer Verarbeitung: statt als Athlet als Zuschauer zur Heim-EM nach Zürich fahren. „Es gab auch Tränen, aber ich habe gemerkt: Das Feuer brennt noch.“
Im Winter versucht sie es mit Langlaufen, so wie früher. Erst im Frühjahr wieder Jogging, zuerst nur 20 Minuten, dann ein Lauf mit der Familie und die Befreiung: „Meine Beine sind wieder da!“ Die Leichtigkeit beim Laufen kommt zurück. Und Jasmin Nunige, die Adidas-Athletin, ist plötzlich so schnell wie nie zuvor, wird mit dem Team Berglauf-Weltmeister und wählt nun immer längere, extremere Strecken. Manche sehen das kritisch, sagen zu ihr: „Du läufst doch nur deiner Krankheit davon.“ Jasmin Nunige sagt: „Ich habe den Eindruck, dass es mir hilft.“
Sie lernt aber auch dazu: „Ich weiß, dass sich nur so stark bin wie mein schwächstes Glied.“ Sie weiß auch: Es macht keinen Sinn, sich gegen die Krankheit zu wehren. MS kann man nicht besiegen, sollte man auch nicht bekämpfen. Besser die Krankheit annehmen und das Beste aus dem Leben zu machen, die Energie für gute Dinge und positive Gedanken verwenden.
„MS ist für mich zum festen Begleiter geworden, zur Lebensaufgabe. Eine Krankheit, die mir Hindernisse in den Weg stellt, aber auch viel Positives zeigt. Ich muss heute nicht mehr laufen, ich darf es. Am Swissalpine Marathon an den Start gehen: Früher war das für mich selbstverständlich. Heute ist es ein Geschenk. Ich bin am Anfang einer neuen Ära.“
Sagt Jasmin Nunige, das Glückskind.
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