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The loneliness of the long-distance cyclist: James Golding in the place where he is happiest - in the saddle.
Weiterträumen

James Golding: Vom Sterbebett zum Weltrekord

  • Sebastian Ring
  • 08. Juli 2020
Credits Titelbild: Joolz Diamond / Red Bull Media House

James Golding ist ein Survivor. Er hat zwei Tumore, eine Depression und den Zusammenstoß mit einem Lkw überstanden. Seitdem lebt er für das Radfahren. Das neueste Ziel des Sieben-Tage-Weltrekordlers: Als erster Brite das berüchtigte Race Across America zu gewinnen.


»Wenn ein Traum sich nicht sofort erfüllt, heißt das nicht, dass er nie wahr wird. Manchmal muss man sich seinen Traum erst verdienen«, hat James Golding einmal dem Daily Express gesagt. Sein eigener Traum ist im April 2020 zerplatzt. Vorerst. Das Race Across America 2020 ist abgesagt. James Golding wird das härteste Ausdauerradrennen der Welt dieses Jahr nicht, wie erhofft, als erster Brite gewinnen können.

Aber was bedeutet eine solche Enttäuschung schon für jemanden, dem die Ärzte vor elf Jahren eine Überlebenschance von gerade mal fünf Prozent einräumten? Der zwei Krebserkrankungen, eine Depression und den Crash mit einem Lkw überlebt hat?
Nichts. Ein Schulterzucken. James Golding tritt weiter in die Pedale. Gewinnt er das Rennen eben erst 2021!

Geschwür in Grapefruit-Größe

Rückblende auf November 2008: Starke Schmerzen im Rücken. Arztbesuch. Diagnose: Krebs. Ein Tumor mit 11,5 cm Durchmesser, der Größe einer Grapefruit. Er klemmt zwischen Wirbelsäule, Niere und Darm. Nicht operabel. Die einzig mögliche Behandlung: Chemotherapie der höchsten Dosis. Die Folge: Künstliche Ernährung. Entzündungen. Gewichtsverlust von fast 40 kg. Notoperation im März 2009. Zwei Wochen künstliches Koma. Ein Monat in der Intensivstation.

Kaum einer der Ärzte glaubt, dass er überlebt. Golding kann nicht mehr laufen, die Beine nicht bewegen, den Kopf nicht heben.

Aber mit den Zehen wackeln, das geht noch. »Damals entstand mein Lebensmotto ‚One step at a time‘, ein Schritt nach dem anderen«, erinnert sich der Brite in der sehenswerten Red Bull Dokumentation »The man who refuses to die«. Der damals 28-Jährige lernt wieder, den Kopf aufzurichten, die Beine zu bewegen, aufzustehen, auf die Toilette zu gehen. »Wenn ich nicht so jung und fit gewesen wäre, hätten die Ärzte mich aufgegeben«, sagt er heute.

Der leidgeprüfte Brite, der Amerika erobern will: Comeback-Wunder James Golding aus Rugby.
Der leidgeprüfte Brite, der Amerika erobern will: Comeback-Wunder James Golding aus Rugby.
Bildcredit: Red Bull Media House / Red Bull Media House

Neubeginn nach der Heilung

Zwei Monate nach der OP wird er aus dem Krankenhaus entlassen. Im Juli 2009 teilen ihm die Ärzte mit, dass der Krebs besiegt sei. Aber er weiß: Nichts wird mehr sein wie vorher. »Ich arbeitete davor in der Immobilienbranche und als Gipser. Ich war sehr materialistisch. Ich würde die Person, die ich damals war, heute nicht mögen«, rekapituliert er.

Auf der Suche nach einem neuen Sinn im Leben kommt ihm der Zufall zu Hilfe: Auf seinem Grundstück steht ein Fahrrad herum und weckt Erinnerungen: In seiner Jugend hat er Mountainbiken geliebt. Er steigt in den Sattel und fährt acht Kilometer um den örtlichen Stausee. »Als ich den Wind um die Nase gespürt habe, fühlte ich mich wieder lebendig«, sagt er.

Zu diesem Zeitpunkt hat James Golding kein einfaches Leben hinter sich. Als Kind hasste er die Schule, kassierte Verweise, fand keine Freunde. Er begann zu schwänzen – und fuhr lieber Rad: »Ich hatte mit elf Jahren mein erstes Mountainbike bekommen. Damit spürte ich zum ersten Mal echte Freiheit.« Mit 14 Jahren ging er von der Schule ab. Seine angeborene Sturheit sagte ihm, dass er es schon schaffen würde. »Die Erwachsenen meinten dagegen alle: Aus dir wird nichts. Du wirst nichts erreichen.« Doch mit 22 besaß er sein eigenes Haus, einen großen Wagen, Geld.

Wirklich glücklich war er nicht, wie ihm nach seiner Krebserkrankung bewusst wird. Er findet eine neue Erfüllung im Radfahren. Er fährt die Runde um den Stausee zweimal. Er fährt zwei Runden und danach noch zu seiner Mutter, die 16 km entfernt wohnt. Ein Schritt nach dem anderen.

Von West nach Ost – als Spendenaktion

Golding wird fit und fitter. Im November 2009 setzt er sich ein ambitioniertes Ziel: Er will quer durch die USA fahren. 5600 km von Los Angeles in Kalifornien nach Miami in Florida. In 34 Tagen. Sein Anliegen: 100.000 Pfund Spendengeld für den Macmillan Cancer Support sammeln. Er will den Ärzten und Pflegerinnen, die sein Leben gerettet haben, etwas zurückgeben.

Ein Schritt nach dem anderen: Er absolviert ein 128-km-Amateurrennen in Schottland, dann ein 190-km-Rennen in Wales. Schließlich eine mehrtägige Tour – 1400 km durch das Vereinigte Königreich, von Land’s End in Cornwall nach John O’Groats im Norden Schottlands.

Im Sommer 2010 fühlt er sich bereit für die große Challenge und bricht in L.A. auf. Die Fahrt von West nach Ost läuft bestens – bis 75 km vor New Orleans das Schicksal ein zweites Mal zuschlägt. Ein Truck holt Golding mit Tempo 110 km/h auf dem Highway 90 vom Rad. »Ich erinnere mich nur an einen lauten Knall und dass ich über den Asphalt schlitterte. « Ein Jahr nach seiner Entlassung landet er wieder im Krankenhaus – mit Rippen- und Ellbogenbrüchen sowie großflächigen Hautabschürfungen an Armen und Beinen. »Wieder musste ich das Laufen neu lernen. Aber es war lange nicht so schlimm wie beim ersten Mal. Ich wusste: Du hast den Krebs besiegt, also schaffst du das hier auch.«

Im Wilden Westen: James Golding 2019 beim Qualifikationsrennen zum Race Across America
Im Wilden Westen: James Golding 2019 beim Qualifikationsrennen zum Race Across America
Bildcredit: Red Bull Media House / Red Bull Media House

Aufgeben gilt nicht!

Schon nach wenigen Wochen sitzt er wieder im Sattel. Macmillan hat ihn als Botschafter zu einer Charity-Veranstaltung in den Französischen Alpen eingeladen. Und wie kommt ein James Golding von seinem Heimatort Rugby dorthin? Sicher nicht mit dem Flugzeug! Er lässt sich nach Calais bringen, setzt sich auf das Rad und strampelt in fünf Tagen 1000 km nach Bonneville im Südosten Frankreichs. Bei der Veranstaltung trifft er auf viele fahrradbegeisterte Krebspatienten. Nach der Bergankunft in Alpe d’Huez ist ihm klar: Für sie muss er zurück in die USA. Er muss zu Ende bringen, was er begonnen hat.

Im Januar 2011 startet er in L.A. von Neuem in das Abenteuer USA-Durchquerung – und erreicht Miami nach 24 Tagen, zehn Tage schneller als vorgesehen. Zudem erhält er auf halber Strecke einen ebenso überraschenden wie erfreulichen Anruf seiner Ehefrau Louisa: »Sie war schwanger – obwohl mir die Ärzte nach der Chemotherapie gesagt hatten, es sei wahrscheinlicher, dass der Mond auf die Erde trifft, als dass ich noch Kinder bekomme«, wie er Cycling Weekly 2013 berichtete.

Wenn dir in deinem Leben etwas nicht passt, dann ändere es. Es ändert sich nichts, wenn du es nicht selbst tust.

Vom Up zum Down

Auf die Hochstimmung folgt der nächste Nackenschlag: Der Krebs ist zurück. Die Ärzte diagnostizieren einen Tumor im Unterleib – dieses Mal immerhin nur von der Größe eines Pingpongballs und mittels einer minimalinvasiven Operation entfernbar. Golding lässt sich davon nicht aufhalten. Er hat den Krebs ja schon einmal besiegt: »Ich konnte damit relativ gut umgehen.«

Er bleibt im Sattel, schwimmt, rennt. Er absolviert die Great Swim Series, fährt mit dem Rad von London nach Paris, nimmt an zwei Triathlons in London teil. Im September 2011 fliegt Golding an einem Sonntag aus Frankreich von der Alpine Challenge zurück und geht am Montagmorgen ins Krankenhaus, um den Tumor entfernen zu lassen. Eine Chemotherapie folgt. Im Mai 2012 ist er geheilt.

Dennoch hat er in dieser Zeit häufig mit Depressionen zu kämpfen. »Manchmal kam ich mit nichts mehr klar, wollte nicht aufstehen, nicht Rad fahren. Es gab Tage, da wollte ich aufgeben.« Der Wendepunkt kam mit einem Bild, das sein Sohn gemalt hatte: »Darauf gab es nur eine Person, die nicht lächelte. Das war ich.« Danach begab er sich in Behandlung. Dabei lernte er: »Wenn dir in deinem Leben etwas nicht passt, dann ändere es. Es ändert sich nichts, wenn du es nicht selbst tust.«

 

Flirrende Hitze: James Golding beim Race Across the West 2019
Flirrende Hitze: James Golding beim Race Across the West 2019
Bildcredit: Red Bull Media House / Red Bull Media House

Voll im Leben

»In mancherlei Hinsicht war Krebs eines der besten Dinge, die mir je passiert sind, weil ich dadurch viel über das Leben gelernt und wichtige Menschen getroffen habe«, hat Golding vor Kurzem zu Red Bull UK gesagt: »Früher war ich am Leben. Jetzt lebe ich.«

Und wie er lebt! Er stellt ein Team zusammen und setzt sich neue Ziele. 2014 scheitert er in Frankreich knapp am Sieben-Tage-Distanzweltrekord. Im August 2015 wird er Neunter bei einem der härtesten Radrennen der Welt, der Haute Route Triple Crown. Im Jahr darauf finisht er auf Platz sieben. 2017 bricht er dann den Sieben-Tage-Weltrekord, fährt in einer Woche 2842 km rund um Rugby. In all den Jahren sammelt er weiter Spenden. Über drei Millionen Pfund sind inzwischen zusammengekommen.

Race Across America – die Tour de France ist ein Klacks dagegen!

Nach dem Weltrekord bilanziert er: Seine Herzfrequenz war herausragend niedrig, er ist topfit! Golding fühlt sich bereit, den nächsten Traum anzugehen: Als erster Brite das Race Across America zu gewinnen! Ein Radrennen in höchstens zwölf Tagen über fast 5000 km von der West- an die Ostküste, von San Diego in Kalifornien nach Annapolis in Maryland – eine der härtesten sportlichen Herausforderungen der Welt. Zum Vergleich: Das Race Across America ist etwa 30 % länger als die Tour de France. Die Radfahrer müssen die Strecke in etwa der Hälfte der Zeit zurücklegen – ohne einen einzigen Ruhetag, ja fast ohne Schlafpausen.

Im Juni 2019 gelingt Golding die Qualifikation. Der inzwischen zweifache Vater wird Dritter beim Race Across the West, 1500 gnadenlose Kilometer von Oceanside in Kalifornien nach Durango, Colorado. Die Teilnehmer müssen die Strecke in 92 Stunden absolvieren. An Schlaf ist dabei kaum zu denken. Das Rennen läuft nonstop. Der Kampf gegen Schlafmangel, Hitze und den inneren Schweinehund lässt viele Teilnehmer vorzeitig aufgeben. Einer der ersten Sätze von James Golding nach dieser Tortur lautet: »Da liegt noch viel Arbeit vor uns!« Wie gehabt: Ein Schritt nach dem anderen.

Für seinen Traum vom Race Across America hat Golding viel aufgegeben. Er hat sein Haus in Großbritannien verkauft, ist mit der Familie nach Portugal gezogen, wo er besser trainieren kann. Er hat ein Ziel, und er verfolgt es stur: »Du kannst nicht zulassen, dass etwas dein restliches Leben bestimmt, das aus heiterem Himmel über dich gekommen ist.« Und er ist glücklich mit dem, was er tut: »Fahrradfahren ist für mich Magie. Es kann dein Leben verändern. Du kannst dich damit von einer Krankheit erholen. Du kannst damit einen Neubeginn schaffen. Es kann dich zum Weinen bringen – aber auch zum glücklichsten Menschen machen, der du je gewesen bist.«

Das nächste Race Across America soll im Juni 2021 starten. Golding weiß, was er bis dahin tun wird: Rad fahren. Rad fahren. Und Rad fahren. Denn an eines glaubt er fest, wie er seinem Sponsor Trek erst kürzlich wieder versichert hat: »Jeder kann jedes Ziel erreichen, das er sich gesetzt hat.«

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