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Foraging: Nahrungssuche auf heimischen Wiesen
Unterwegs

Von der Hand in den Mund

  • Ole Zimmer
  • 21. Juni 2019
Credits Titelbild: Enno Kapitza

Das Sammeln wilder Pflanzen ist der große Food-Trend der Stunde. Doch funktioniert Foraging auch vor unserer Haustür? Unser Autor schätzt sonst beim Wandern sportliche Herausforderungen – jetzt entdeckt er zu Fuß die Zutaten für seine nächste Brotzeit 


Das Naturspektakel beginnt mitten in der Zivilisation. Die große Wiese unterhalb des Walchensee-Kraftwerks steht in voller Pracht. Alle paar Zentimeter leuchtet eine andere Farbe, es wuchert, blüht und grünt. Nur ein paar Schritte neben dem Weg steht das Knabenkraut, eine in Bayern heimische Orchidee; ziemlich selten und streng geschützt. Sonja Greimel steht inmitten dieses prallen Lebens und strahlt: „Diese Wiese ist so schön und so vielfältig, so etwas sieht man nur ganz selten.“

Für die gemeinsame Brotzeit nach der Wanderung suchen wir junge Pflanzen, die noch nicht blühen. Denn die frischen Triebe haben die meiste Energie, den besten Geschmack: Giersch, Schafgarbe, Walderdbeeren, Löwenzahn, wilder Thymian, Bibernelle und mehr. Wenn sie lacht, wirkt Sonja wie Mitte 20. Dabei ist sie schon so lange in der Sport- und Outdoor-Branche, dass sie noch die Anfänge des Snowboardens in Europa mitgeprägt hat. Seit acht Jahren führt sie in ihrer Freizeit Kräuterwanderungen, zuerst auf eigene Faust, seit drei Jahren auch für den Deutschen Alpenverein.

Schöne Nahrungsquelle: eine Blumenwiese voller Kräuter
Giersch, Schafgarbe, wilder Thymian: In einer gesunden Blumenwiese wachsen unfassbar viele essbare Pflanzen
Bildcredit: Enno Kapitza / Enno Kapitza
12.000 unterschiedliche Pflanzen gibt es bei uns in Europa – fast jede zehnte davon ist essbar

Unsere Tour verläuft einmal halb um den Kochelsee. Der Weg selbst ist nicht der Rede wert. Vom alten Kloster geht es über Nebenstraßen und durch eine Siedlung am Seeufer in den Wald und weiter auf einen breiten, fast komfortablen Steig am südlichen Hochufer des Sees. Alles in allem gerade einmal fünf Kilometer, nicht gerade ein Abenteuer. Doch unser heutiges Ziel liegt nicht auf fernen Gipfeln, sondern oft genug nur eine Handbreit entfernt von Weg und Pfad, manchmal mitten darauf.

Sonja Greimel erklärt unserem Autor die Blumenwiese
Pflanzenexpertin an ihrem Arbeitsplatz: Seit acht Jahren bietet Sonja Greimel Kräuterwanderungen an
Bildcredit: Enno Kapitza / Enno Kapitza

12.000 unterschiedliche Pflanzen gibt es in Europa, rund 1.500 davon sind essbar. Und wer zumindest einen kleinen Teil davon entdecken möchte, der macht eine Kräuterwanderung. Dabei geht es nicht darum, Survival-Freaks wie Rüdiger Nehberg nachzueifern. „Aber wenn du weißt, was du am Wegesrand siehst, erkennst du auch, wie vielfältig die Natur ist“, erklärt Sonja. Und im Idealfall passen die Menschen dann auch besser auf die auf, lernen sie zu schätzen, so das Kalkül. Denn viele Pflanzen, denen wir auch auf alltäglichen Touren begegnen, sind fast so alt wie die Zeit. Der Schachtelhalm neben dem Gartentor? Seit 400 Millionen Jahren auf der Erde. Die Farne im Schatten? Auch schon 350 Millionen Jahre hier.

Die Begeisterung für die Schönheiten der Natur liegt Sonja quasi im Blut. „Bei meiner Tante bin ich damit aufgewachsen“, erzählt sie. „Dort war dieses Wissen vom Leben – welche Pflanzen gibt es, welche Inhaltsstoffe haben sie, wie verarbeitet man das.“ Bei der Tante, das heißt: ein Bauernhof hinter Dorfen, mitten auf dem oberbayerischen Land. „Ich konnte dort den ganzen Tag lang machen, was ich wollte, in der Natur herumstreunen. Es war ein Traum“, erinnert sich Sonja.

Ole Zimmer probiert verschiedenen Kräuter
Draußen normalerweise an sportlichen Höchstleistungen interessiert: Unser Autor Ole Zimmer findet Geschmack an Kräutern – und nebenbei an einem neuen Outdoor-Verständnis  
Bildcredit: Enno Kapitza / Enno Kapitza

Abends wurden die alten Geschichten und Sagen erzählt, die sich um die Pflanzen ranken. Von der Schafgarbe, die auch „Augenbraue der Venus“ genannt wird und ätherische Öle enthält – wie die echte Kamille. Oder vom Holunderbusch, dessen Saft nicht nur das Immunsystem stärkt. Der Busch soll auch Wohnsitz der guten Göttin Holler sein. Weshalb der Holunder gerade auf dem Land oft nahe an den Bauernhäusern gepflanzt wird, um die bösen Geister zu vertreiben.

Auch wenn wir noch gar nicht weit gekommen sind: Mittlerweile macht sich der Hunger bemerkbar. Sonja hat eine Stelle mit tiefroten Walderdbeeren entdeckt. Der Geschmack: intensiv süß und kräftig, ganz anders als die manchmal recht wässrigen Zuchtexemplare aus dem Supermarkt. Keine ernsthafte Mahlzeit, aber eben auch nicht zu unterschätzen. Wilde Erdbeeren haben deutlich mehr Inhaltsstoffe als normale Erdbeeren, erklärt Sonja. 

Sonja Greimel führt seit acht Jahren Kräuterwanderungen, hier am Kochelsee
Das OutDoor Society-Team auf der Suche nach Essbarem in der Nähe des Kochelsees 
Bildcredit: Enno Kapitza / Enno Kapitza

Überhaupt spielen die unterschiedlichen Geschmäcker und der Genuss eine wichtige Rolle auf Kräuterwanderungen. Früher, sagt Sonja, habe sie einfach nur erklärt, was es zu sehen gibt und was man damit machen könne. Inzwischen lässt sie ihre Begleiter immer wieder schmecken, riechen, fühlen. Und nach der Wanderung wird gemeinsam gegessen. „Dadurch bekommt man einfach mehr mit und erinnert sich besser."

Die Pflanzen hier draußen haben noch jede Menge ihrer ursprünglichen Inhaltsstoffe

Wobei man vorsichtig sein sollte, wenn man sich auch kulinarisch in die Natur wagen möchte. „Du musst dich herantasten“, erklärt Sonja. „Wir sind Salat und Gemüse aus dem Supermarkt gewohnt, da steckt oft nicht mehr viel drin. Die Pflanzen hier draußen haben noch jede Menge ihrer ursprünglichen Inhaltsstoffe.“ Wer hier am Anfang zu stark zulangt, riskiert eine Überdosis Natur und reagiert im schlimmsten Falle mit Allergien. „Man merkt aber auch, dass man viel schneller satt ist, wenn man mit den Zutaten aus der Natur kocht. Es steckt einfach mehr drin“, erklärt Sonja.

Ergebnis der Wanderung: ein Brett mit essbaren Kräutern
Zwischenergebnis nach einer Stunde Suche: Giersch – in der Bildmitte – eignet sich hervorragend für Kräuterquark
Bildcredit: Enno Kapitza / Enno Kapitza

Und natürlich können die falschen Inhaltsstoffe auch von außen dazukommen: Auf den Wiesen vom Bauern weiß man nie, wann und womit dort zuletzt gedüngt wurde, am Straßenrand kann es sein, dass man in einem Hundeklo sucht. Risiken, die man beim Wandern in den Voralpen meist ausschließen kann. Auf jeden Fall auf unserer Route. 

Ein Trick der Sammlerin: Wo andere auf Körbe oder Papiertüten schwören, nutzt sie Tiefkühlbeutel mit Zipper – und eine Brise frischen Atem 

Mit Sonja unterwegs zu sein, kann eine langwierige Angelegenheit werden, fad ist es nie. Mit fast jedem Schritt entdeckt sie neue Beeren, Blüten, Kräuter, Wurzeln oder Knospen. Die kurze Wanderung dauert nun schon fast drei Stunden, und wir haben gerade einmal zwei Drittel des Wegs zum Fähranleger in Altjoch hinter uns. Dafür sind die Sammelbeutel voll mit den unterschiedlichsten Blüten und Blättern. Ein Trick der Sammlerin: Wo andere auf Körbe oder Papiertüten schwören, nutzt sie Tiefkühlbeutel mit Zipper. Die füllt sie mit ihrer Beute, bläst sie auf und verschließt sie. So bleiben die Kräuter auch im Rucksack wie in einem Luftballon vor Druck geschützt und werden durch den Atem feucht gehalten.

Unser Team bereitet das Essen vor
Aus den gesammelten Kräutern stellen Sonja und Ole Brotaufstriche, Kräuterquark und Schorle her
Bildcredit: Enno Kapitza / Enno Kapitza

Inzwischen ernten wir an einem steilen Hang im Wald Sauerklee. Die zarten Blätter legen wir direkt vor Ort auf unsere Butterbrote aus dem Rucksack und genießen. Wir entdecken Baldrian und Nelkenwurz. Und da ist auch wieder der Giersch, „Unkraut und Hassobjekt aller Gärtner“. Wenn man aber die jungen Blätter reibt, riecht es nach Karotten, Pastinaken, Wurzelgemüse – der Geschmack erinnert an Petersilie und jungen Spinat.

Nach knapp vier Stunden, die sich angefühlt haben wie eine einzige, erreichen wir dann die Anlegestelle, von der uns die Fähre einmal über den See zurückbringen soll. Es ist verblüffend, wie viele unterschiedliche Pflanzen, Gerüche und Geschmäcker wir auf diesem kurzen Stück Weg entdeckt haben und wie die Zeit verflogen ist.

Lecker und gesund: Brotaufstrich aus Butter und Schafgarbe
Bildcredit: Enno Kapitza / Enno Kapitza
Essen ist fertig: Kräuterschorle mit verschiedenen belegten Broten
Brotzeit und Almdudler reloaded: Das Ergebnis einer kurzen Kräuterwanderung kann sich schmecken lassen 
Bildcredit: Enno Kapitza / Enno Kapitza

Während wir warten, räumt Sonja noch mit einem Vorurteil auf. „Löwenzahn ist toll“, sagt sie. Die jungen Triebe könne man verwenden wie Rucola, die Blüten pur essen oder anbraten wie Pilze. Aber haben wir als Kinder nicht gelernt, Löwenzahn sei giftig? Sonja lacht: Das sei ein Märchen aus der Zeit vor der Erfindung der Waschmaschine. Der Saft aus den Blütenstängeln mache einfach furchtbare Flecken, die man kaum mehr aus den Klamotten bekomme. Deshalb die Warnung der Mütter – und der schlechte Ruf des Löwenzahns. Schon wieder was gelernt.