Wintersport/21.12.2015

Ski-Airbag: Lebensretter oder extremes Risiko?

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Wahrscheinlich hat sich Matthias Mayer noch nicht bei Lino Dainese gemeldet. Aber indirekt bedankte sich der Abfahrts-Olympiasieger von Sotschi schon bei dem Gründer des Sportausrüsters Dainese. Nach seinem kapitalen Sturz mit weit mehr als 100 km/h auf der Saslong, der Ski-Weltcup-Abfahrt in Gröden, nach dem Bruch des sechsten und siebten Brustwirbels, nach der Operation in der Innsbrucker Klinik, in der der Bereich vom fünften bis zum achten Wirbel verschraubt wurde, sagte Matthias Mayer: „Es hätte viel schlimmer sein können. Zum Glück habe ich den Airbag angehabt. Der ist in der Luft aufgegangen. Das war in dem Fall sicherlich eine gute Lösung."

Heftiger Einschlag: Matthias Mayer crasht in Gröden, der Ski-Airbag löst aus
Heftiger Einschlag: Matthias Mayer crasht in Gröden, der Ski-Airbag löst aus Beim Sprung auf dem dritten Kamelbuckel der Saslong fliegt Mayer mit über 100 Stundenkilometern durch die Luft und knallt auf den Rücken

Es war das erste Mal, dass der D-air-Airbag von ISPO-Aussteller Dainese, den die Skiprofis seit Beginn der Saison tragen dürfen, tatsächlich im Rennen zum Einsatz gekommen ist – ein Novum also in Sachen Sicherheit im Wintersport.

Skiprofis als „crash test dummies”?

Und zugleich Anlass für eine mit durchaus scharfen Worten geführte Debatte im Skifahren: Heftige Kritik kommt von Olympiasieger und Weltmeister Ted Ligety: „Unglücklicherweise“ würden die Sportler als „crash test dummies’” genutzt, um mit einem „nicht erprobten Airbag-System experimentieren zu können“, schrieb er auf seiner Facebook-Seite.

Facebook-Post von Ted Ligety
In diesem Facebook-Post beschreibt Ted Ligety, warum er den Airbag für die Schwere der Verletzungen von Matthias Mayer verantwortlich macht.
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Screenshot

Ted Ligety, der als Aktivensprecher der Skirennfahrer im Weltcup fungiert, forderte eine Untersuchung des Vorfalls. „Nach meinem Kenntnisstand war dies der erste richtige Crash mit diesem Airbag“, dieser habe die „schlimmste Rückenverletzung in mehr als einem Jahrzehnt“ zur Folge gehabt. Für ihn sehe es so aus, als habe der Airbag bei dem Sturz auf der Piste wie ein Hebel auf den Rücken von Mayer gewirkt, ergänzte der Amerikaner.

Sicherheitsdiskussion nach Unfällen auf der Kitzbühler Streif

Die Weltcup-Saison ist zwar vorbei für den Österreicher, aber immerhin kann er sprechen und liegt nicht im Koma wie Scott Macartney, Daniel Albrecht und Hans Grugger. Die waren in den Jahren 2008 bis 2011 auf der Kitzbüheler Streif ähnlich wie nun Mayer mit weit mehr als 100 km/h auf die Wirbelsäule geknallt und hatten mal wieder eine Diskussion über Sicherheit im alpinen Rennlauf ausgelöst.

Der Dainese D-Air Schutz für den Wintersport
Der Dainese D-Air Schutz für den Wintersport
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Dainese

Im Jahr darauf präsentierte Kristian Ghedina für Dainese in Kitzbühel einen Lösungsvorschlag: den Airbag für Skifahrer. Mittlerweile wird sehr ernsthaft diskutiert über den Airbag, und das dürfte Lino Dainese mit Genugtuung erfüllen.

Dainese ist der Gründer des Marktführers in Sachen Motorrad-, Ski- Reitsport- und Mountainbike-Schutzbekleidung. 1972 gegründet, Sitz in Molvena bei Vicenza, wo im futuristischen Dainese Technology Center an der intelligenten Kleidung der Zukunft geforscht wird. Der Chef ist 67, graumeliert, perfekt sitzender Anzug, dunkle Designerbrille. Er sagt: „Die Natur lehrt uns die Balance zu finden zwischen Ergonomie und Sicherheit.“

Seine Produkte seien „inspiriert von der Natur, hergestellt durch Technologie.“ Die Bienenwabenstruktur eines modernen Rückenprotektors verteilt die auftreffende Energie über die gesamte Oberfläche. Und lässt man dann noch einen italienischen Designer ran, dann landet so eine Protektorenweste schon mal im MoMA, im New Yorker Museum for Modern Art.

Ski-Airbag nach Vorbild von Samurai-Rüstungen

Dainese schaute sich auch die Ritter- und Samurai-Rüstungen aus dem 16. Jahrhundert genauer an. Die moderne Ritterrüstung, die keine Schwerthiebe, sondern den Aufprall auf Asphalt oder einer pickelhart präparierten Piste beim Skifahren managen muss, beschreibt er ganz unprätentiös als „ein Kleidungsstück, das seinen Job tut, wenn sein Träger die Kontrolle verloren hat“.

Rückansicht des Dainese D-Air
Rückansicht des Dainese D-Air
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Dainese

Als Smartwear: eine Mischung aus Wissen, Elektronik, Mechanik und Medizin. Seit vielen Jahren schon gehen die weltbesten Motorradfahrer mit dem D-Air in ihre halsbrecherischen Rennen. Er ist im Lederanzug integriert, löst schneller aus als ein Wimpernschlag und ist für Weltstars wie Valentino Rossi so selbstverständlich wie Zähneputzen. So weit sind die Skifahrer noch lange nicht.

Unfall auf der Ski-Piste: Drei von fünf Sensoren müssen anschlagen

Die Daten des Airbags: Er ist 800 Gramm schwer, trägt 27 Millimeter auf unter dem Rennanzug und bläst sich nach einem äußerst komplizierten Algorithmus innerhalb einer Zehntelsekunde auf, wenn drei von fünf Sensoren „wahrscheinlich Sturz" signalisieren. Diese Wahrscheinlichkeit macht viele Rennläufer skeptisch: „Was, wenn das Ding aufgeht, obwohl ich gar nicht gestürzt bin?", lautet ihre ja durchaus berechtigte Frage.

Was passiert? Nun: Der Airbag bläst sich am Nacken und im Brustbereich auf, was die Beweglichkeit des Fahrers natürlich einschränkt. Will sagen: Er kann zwar weiterfahren, wird aber aus aerodynamischen Gründen – Stichwort Michelin-Männchen – nicht als Sieger über die Ziellinie donnern. Nur ein halbes Dutzend Rennläufer nutzte den rund tausend Euro teuren Airbag bei der Abfahrt in Gröden, unter ihnen eben Matthias Mayer, der den Einsatz wohl keinesfalls bereut haben dürfte.

Erst auf die Ski-Piste – dann auf den Mars?

Günter Hujara, der ehemalige Renndirektor des Weltverbandes FIS, ist heute technischer Experte bei der FIS und sagte nach Mayers Sturz: „Der Airbag ist eine Hilfe. Es gibt kein System, das alles verhindert.“ Bei einem Autounfall selbst mit niedriger Geschwindigkeit seien die Insassen trotz Airbags und Sicherheitsgurts auch nicht vor Blessuren gefeit, erklärte Hujara.

Lino Dainese meint: „Ausgereizt ist die Technik noch lange nicht: Materialentwicklung und Ergonomie: Das fängt ja alles erst richtig an.“ Schon seit Jahren arbeitet er mit der Nasa an einem ganz anderen Projekt: einem Biosuit für die erste Raumfahrt zum Mars.




Autor: Thomas Becker