06.09.2016

Paralympics-Star Markus Rehm: „Lasst uns gemeinsame Wettkämpfe machen“

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Markus Rehm hat bei den Paralympics 2016 in Rio sein zweites Gold gewonnen, nach seinem Sieg mit der 4x 100 Meter-Staffel triumphierte Rehm auch im Weitspring. Dabei hatte eigentlich bei den Olympischen Spielen starten wollen. Wegen seiner Beinprothese wollte ihn der Leichtathletikverband aber nicht dabei haben. Ein Portrait über Rehms langen Kampf für Gleichberechtigung und Inklusion.

Top-Weitspringer Markus Rehm: Wegen seiner Prothese darf er nicht bei Olympia starten.
Top-Weitspringer Markus Rehm: Wegen seiner Prothese darf er nicht bei Olympia starten.

Wenn Markus Rehm seine Trainingshose abstreift, zeigt das Publikum oft die gleiche Reaktion: Erst wird es ruhiger in der Sporthalle. Dann ist leises Murmeln zu hören. Aber spätestens wenn Rehm seinen Athletenkörper aufrichtet, in die Menge lächelt und sie zum Klatschen animiert, setzt erleichterter und freudiger Applaus ein. Der Hingucker ist die Karbonprothese, die Rehms rechten Unterschenkel ersetzt. Rehm kennt das.

 

 

Rehms Unfall war kein Schicksalsschlag

Wenn er dann federnd anläuft, sich bewegt, wie einem Science-Fiction-Film entsprungen, wirkt es etwas unrund. Aber die explosive Dynamik, mit der das linke Bein im Wechsel mit der gebogenen Prothese auf die Kunststoffbahn hämmert, ist famos. Auch deshalb steht er im Mittelpunkt.

So wie im Frühjahr beim „Golden Fly Series“ in Rio. Dort knipste er eine Stunde lang Selfies mit Fans, „während die anderen im Bus schon etwas genervt warten mussten“, sagt er.

Oder wie im Winter beim „Indoor Grand Prix“ in Glasgow, wo vorher wochenlang nur die Rede war vom Duell zwischen ihm und Greg Rutherford, dem derzeit besten Springer der Nichtbehinderten.

Überflüssig zu erwähnen, dass sich Markus Rehm durch seine Behinderung nur selten behindert fühlt. Seinen Unfall vor 13 Jahren empfindet er nicht als Schicksalsschlag.

Eher wie eine Fußnote seiner Vita, wie ein anderes Lebensereignis von mittlerem Gewicht – ein Umzug, ein Jobwechsel, eine neue Liebe. Bei ihm eben: die Amputation des rechten Unterschenkels.

Markus Rehm ist kein „Behinderter“, er ist vor allem einer der besten Weitspringer Deutschlands, wenn nicht Europas und der Welt. Trotz oder wegen seiner Behinderung? Genau das ist die große Frage. Aber dazu später.

 

„Ist ja blöd, so ne Prothese“

Zunächst zurück in den Sommer 2003. Die Familie Rehm macht Urlaub am Main, in der Nähe von Kitzingen. An diesem 10. August, kurz vor dem Abendessen, lässt der 14 Jahre alte Markus auf seinem Wakeboard nach einem missglückten Sprung die Leine los und landet im Wasser. Nicht weiter schlimm, hätte ihn nicht der Fahrer eines Motorboots übersehen.

Der rechte Fuß des Jungen gerät in die Schiffsschraube. Eine mehrstündige Operation in der Uniklinik Würzburg kann den Fuß nicht retten – drei Tage danach muss dem Jungen der rechte Unterschenkel vom Knie an abwärts amputiert werden.

So wie er diesen Wendepunkt seines Lebens gemeistert hat, könnte Rehm Psychologieseminare geben zu Resilienz und positivem Denken. „Natürlich gab es Tiefs, vor allem weil die erste Prothese eine riesige Enttäuschung war“, sagt er. Die hat er dann auch gleich gegen die Wand gehauen.

Und natürlich musste er „die ein oder andere Träne verdrücken“. Das war es dann aber. „In den letzten Jahren gab es keinen Moment, in dem ich gedacht habe: Oh, ist ja blöd, so ’ne Prothese.“

Manchmal wird es sogar lustig mit ihr. Auf einem Langstreckenflug streckte ein Freund von Rehm das rechtes Bein aus, während eine Stewardess den Trolley durch den Gang wuchtete. „Aufpassen“, rief sie ihm zu, „sonst ist das Bein ab.“

Rehm grinst bübisch, wenn er erzählt, wie sich ihr Teint von zartrosa zu signalrot veränderte, als sein Freund sie darauf hinwies, dass das Bein schon längst ab sei. Handicap-Humor.

 

„Er hat meinen Anspruch versaut“

Zur Leichtathletik kam Rehm fünf Jahre nach seinem Unfall. Jemand hatte ihn Trampolin hüpfen gesehen und sein unglaubliches Sprungtalent erkannt. Beim Probetraining bei Bayer Leverkusen traf er Steffi Nerius, damals noch aktive Speerwerferin, aber gleichzeitig schon Trainerin im Behindertensport. „Er hat sich gleich supergut angestellt“, erinnert sie sich. Seither arbeiten die beiden zusammen, fast symbiotisch.

Markus Rehm gibt Interviews in geschliffenem Englisch, er lächelt sein Lächeln, das keine Schwiegermutter unberührt ließe, und ist auch beim siebten Interview und beim vierunddreißigsten Autogrammwunsch noch immer nett. Dazu fleißig und diszipliniert.

Kein Haken? „Der Haken ist, dass es keinen Haken gibt“, sagt Steffi Nerius. Vielleicht wünscht sie sich ein wenig mehr Sperrigkeit? „Er hat meinen Anspruch versaut. Wenn ein neuer Sportler zu mir kommt, denke ich, dass er auch so sein müsste wie Markus.“

 

Trainerin und Freundin: Ex-Speerwerferin Steffi Nerius trainiert Rehm.
Trainerin und Freundin: Ex-Speerwerferin Steffi Nerius trainiert Rehm.
Bildcredit:
Imago / Caal v.d. Laage

Der Paralympics-Star fährt mit dem Skateboard nach Hause

Leverkusen im Frühjahr 2016. Markus Rehm rollt mit seinem Skateboard hinunter zur Halle. Nie käme man auf die Idee, dass er nicht mit beiden Beinen im Leben steht. Es ist kurz vor acht und er beginnt seine tägliche Routine: Training.

Nur ein paar Sportler verteilen sich an so einem Vormittag in der Halle, hier wird gesprungen, dort gesprintet. Aus den Lautsprechern dudelt Radio Leverkusen die Hits der 80er und verbreitet erschreckend gute Laune. Aber Markus Rehm ist hoch konzentriert. Absolviert alle Übungen ohne Murren.

Seine Trainerin sagt: „Markus ist sehr intelligent, aber er hinterfragt nicht alles, er macht auch einfach mal. Und das muss ein Leistungssportler.“ Und so macht Rehm einfach mal: Kugelstoßen mit Hopser für die Schnellkraft. Froschartige Sprünge vom Boden weg. Einmal, fünfmal, zehnmal.

„Jetzt sieht man die Anstrengung“, sagt Steffi Nerius, „wenn’s gut läuft, hat er morgen Muskelkater.“ Danach geht es in den Kraftraum. Jeden Tag, außer sonntags, da ist frei. Nach dem Training fährt Rehm auf seinem Skateboard nach Hause, in seine Wohnung gleich hinterm Trainingsgelände.

Nur 36 Quadratmeter groß, „aber gut geschnitten“, sagt er. Seine größere Wohnung gab er auf, um noch näher an seinem Sport zu sein. Schnell duschen, dann geht’s weiter. Im mausgrauen Halbarm-Oberhemd seiner Firma fährt er nach Troisdorf, wo er seinem Halbtagsjob als Meister für Orthopädiemechanik nachgeht.

 

Volle Kraft voraus: Bei der WM 2017 will Rehm in London starten dürfen.
Volle Kraft voraus: Bei der WM 2017 will Rehm in London starten dürfen.
Bildcredit:
Imago / Eibner

Dort, zwischen Fußadaptern, Normgelenken und Eingussankern, wo es immer etwas nach Gummi riecht, hilft er Menschen, die sich an eine Prothese und auch an ein neues Leben gewöhnen müssen. Mit seiner Geschichte und seiner Art macht er es ihnen leichter.

Zeit für sich bleibt da kaum. Abends ist er müde, vielleicht noch ein paar Mails schreiben, das war’s dann auch. Dass er den Nachtisch immer stehen lässt und Alkohol die absolute Ausnahme bleibt, versteht sich von selbst.

Vom Paralympics-Springer zum „Fall Rehm“

Wozu das alles, könnte man fragen. In seiner paralympischen Klasse ist er konkurrenzlos. Seine Bestleistung liegt bei 8,40 Meter, das ist ein Meter mehr als die seines Hauptkonkurrenten. Rehm würde in Rio wohl auch Gold gewinnen, wenn er sich nur von Nachtisch ernähren würde. Er würde es nie sagen, aber die Paralympics sind fast langweilig für einen Ausnahmeathleten wie ihn. Und so verfolgt er andere Ziele.

Er will bei den Nichtbehinderten mitmischen, will den Vergleich, will Inklusion im Spitzensport. Schon mehrfach schrieb er dem Weltverband IAAF, bat darum, dass ein Gutachten veranlasst werde, das klarstellen soll, ob er mit seiner Prothese einen Vorteil hat oder nicht. Ob er bei den Nichtbehinderten starten (und gewinnen) darf oder nicht.

Zum ersten Mal sprang er spektakulär in die Schlagzeilen, als er bei den ganz normalen Deutschen Meisterschaften im Juli 2014 in Ulm siegte. Sogleich änderte sich die Stimmung: vom generösen „Lasst-ihn-doch-mal-mitmachen“ hin zum Lamento über einen Vorteil, den die künstliche Sprunghilfe doch biete. Aus dem netten Sportler mit Handicap wurde der „Fall Rehm“, über den sogar die „New York Times“ berichtete.

 

 

Verzerrt die Prothese den Wettbewerb?

Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) änderte mehrfach seine Meinung. 2012 wurden behinderte Sportler von den Wettkämpfen der Normalos ausgeschlossen, 2013 zugelassen, nach Rehms Titel 2014 wieder nicht. Ja, was denn nun?

Auch seine Trainerin bemerkte im Juli 2014 einen Stimmungswechsel. „Neid und Missgunst“ seien plötzlich da gewesen, sagt Nerius, „einige Athleten und Trainer veränderten sich total“. Der DLV nominierte Rehm nicht für die EM 2014 in Zürich. Rehm hätte dagegen klagen können.

„Aber das ist kein Weg, der zu einem guten Ziel führt“, sagt er. Seither startet er oft außer Konkurrenz. Und zieht weiter die meiste Aufmerksamkeit auf sich. Was manche Kollegen stört.

Verzerrt die Prothese nun den Wettbewerb oder nicht? Um das zu klären, organisierte Rehm selbst eine wissenschaftliche Studie mit der Sporthochschule Köln, der Universität von Boulder in Colorado und dem Nationalinstitut für Technologie in Tokio.

Das Ergebnis wurde Ende Mai verkündet: Rehm hat keine eindeutigen Vorteile durch die Prothese.

Natürlich hilft ihm die Federkraft der Karbonprothese nach dem Absprung. Andererseits: „Wenn es ein so großer Vorteil wäre, gäbe es doch viel mehr paralympische Springer mit Weiten über acht Meter.“

Und es gebe ja auch Nachteile: „Ich habe Schwierigkeiten beim Anlauf und ein gestörtes Gleichgewicht“, sagt er. Wahrscheinlich ist es so, dass Rehm einen ähnlichen Vorteil hat wie einst Carl Lewis, der seit 1984 den Hallenweltrekord von 8,79 Metern hält: Der Mann konnte einfach deutlich weiter springen als alle anderen. Wie unfair ist das denn?

 

„Paralympische Athleten bringen ganz andere Werte rüber“

Vor Olympia verzichtete Rehm freiwillig auf einen Start bei den olympischen Spielen und geht nun bei den Paralympics an den Start. Zuvor hatte er appelliert: „Lasst uns doch gemeinsame Wettkämpfe machen. Es ist für uns Sportler interessant, für die Zuschauer spannend und wir bekommen unseren Sport wieder mehr in die Mitte der Gesellschaft.“ 

Soll heißen: Die internationale Leichtathletik, durch Dopingskandale gebeutelt, könnte mit Sportlern wie Rehm positive Akzente setzen. Immerhin, so sagt Rehm, sei er in der Diskussion mit Jean Gracia, dem Generalsekretär des Leichtathletikweltverbands, wichtige Schritte voran gekommen.

Sein neues Ziel: Bei der Leichtathletik WM 2017 in London sollen auch körperlich benachteiligte Sportler starten dürfen. Dafür kämpft er nun in einer Arbeitsgruppe der IAAF.

Denn für Rehm ist die Sache klar: „Paralympische Athleten bringen doch ganz andere Werte rüber“, sagt Rehm. „Etwas aus dem Leben zu machen, das Schicksal anzunehmen und sich nicht über das zu ärgern, was man nicht hat.“

 

 

Dieser Text stammt aus dem 1890 Allianz Magazin, dem Kundenmagazin der Allianz. Hier können Sie alle Magazine direkt downloaden.  Die komplette Paralympics-Sonderausgabe ist als kostenlose App „1890 Allianz Magazin“ für Apple- und Android-Geräte erhältlich. Außerdem steht das Magazin online in der Mediathek von www.allianzdeutschland.de.

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