Health/29.11.2015

Sport macht schlau

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Dicke Jungs werden gern ins Tor gestellt, träge Mädchen bei der Mannschaftsaufstellung als letzte gewählt – das grenzt aus und demotiviert. Zeit, in der Pädagogik neue Maßstäbe zu setzen und alle Kinder und Jugendlichen für Bewegung zu begeistern. Das fördert Körper und Geist.

Kinder und Lehrerin bejubeln Pokal nach Basketballspiel.
Hier wurde alles richtig gemacht: Jubelnde Kinder nach einem Basketballspiel.

Donnerstag, siebte, achte Stunde, Sportunterricht in einer neunten Klasse. Der Lehrer tobt: Ein Viertel der Klasse ist – trotz wiederholter Verwarnungen – nicht erschienen und macht blau. Ein paar Schüler zerren lustlos Matten aus dem Geräteraum, andere spielen an ihren Handys.

Zwei Mädchen wollen nicht mitmachen – „Bauchschmerzen“ –, andere drücken sich im Umkleideraum herum oder trudeln gerade ein. Bis alle Schüler startklar sind und der Unterricht beginnen kann, sind zwanzig Minuten verstrichen. Der Rest geht für weitere Disziplinierungsmaßnahmen, das Erklären der Übungen und den Auf- und Abbau der Geräte drauf.

Schulsport hat Nachholbedarf

Am Ende haben sich die Jugendlichen in dieser Doppelstunde zwölf Minuten bewegt. Fazit? Sportunterricht: mangelhaft, Schüler: frustriert. Zwar mögen viele Schüler eigentlich Sport, und auch in der Gesellschaft bekommt dieser einen immer höheren Stellenwert, aber den Unterricht in der Schule finden Jugendliche langweilig und einfallslos.

„Ich hasse Schulsport“, erzählt ein Mädchen. „Im Moment machen wir Geräteturnen, und ich drücke mich, so gut ich kann. Entweder sage ich, dass ich meine Sportsachen vergessen habe, oder ich bleibe gleich zu Hause.“

In Zeiten knapper Kassen sind viele schulische Sportstätten marode, die Geräte veraltet, oft wird fachfremd unterrichtet. Sport gilt als softes Fach, wird mit Freizeit assoziiert und abgewertet. Nicht nur Eltern stellen den Sportunterricht infrage, halten Mathematik und Englisch für wichtiger.

Kritik an den Lehrmethoden

„Wenn Unterricht ausfällt, dann zuerst der Sportunterricht“, bestätigt Günter Stibbe, Professor für Sportdidaktik und Schulsport an der Deutschen Sporthochschule (DSHS) Köln. „Es wäre schon ein Fortschritt, wenn die von den meisten deutschen Bundesländern vorgesehenen drei Stunden in der Woche tatsächlich stattfänden.“

Tatsächlich werden nur 2,2 Stunden Sport in der Woche unterrichtet. Zu diesem Ergebnis kam die Sprint-Studie 2006 des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), die einzige Studie zum Schulsport in Deutschland.


"Müssen Finger in die Wunde legen"

Die Autoren kritisierten damals auch, dass die Sportlehrer zu alt und die Vermittlung von Trendsportarten entsprechend schwierig sei. Seitdem hat sich offenbar nicht viel verändert in Sachen Schulsport: Nicht von ungefähr gäbe es keine weitere Studie, unken Fachleute. 

„Es ist erschreckend, was im Schulsport passiert“, urteilt der einstige Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL), Andreas Rettig, und forderte „Wir müssen den Finger in die Wunde legen“. Gesellschaftliche Probleme wie beispielsweise Fettleibigkeit entstünden aus der Vernachlässigung des Schulsports.

Macht Schule Kinder dick?

Zwar hat dieser in Ländern wie Kanada, Großbritannien, Frankreich oder den USA traditionell einen anderen Stellenwert als in Deutschland, aber auch hier gibt es Probleme, alle Schülergruppen zu erreichen und langfristig für Sport und Bewegung zu begeistern.

Wird so eine wichtige Chance verspielt? Fakt ist: Nach Schätzungen bewegen sich weltweit zwei Drittel aller Kinder und Jugendlichen zu wenig – Tendenz steigend. Mangelnde Bewegung gilt mittlerweile als das zentrale Gesundheitsproblem des dritten Jahrtausends.

Das US-Department of Health and Human Services mahnte, die Schulen müssten mit vereinten Kräften helfen, diese Entwicklung zu stoppen und den Trend umzukehren. Obschon Eltern, Lehrer und Ärzte die Jugendlichen über Jahre hinweg gedrängt hätten, seien diese immer noch weniger als die empfohlenen 60 Minuten am Tag körperlich aktiv.

Fettleibigkeit wächst weiter

„Wir müssen einschneidende Maßnahmen ergreifen, damit sich das ändert“, so Sportwissenschaftler Russel Pate von der Universität South Carolina. „Die Schule ist der beste Ort, um damit anzufangen. Schließlich sind hier alle Kinder jeden Tag sechs, sieben Stunden erreichbar.“

Nirgendwo auf der Welt leiden so viele Jugendliche unter Adipositas wie in den USA: 17 Prozent der amerikanischen Kinder und Jugendlichen gelten als fettleibig, dreimal so viele wie noch vor 30 Jahren. Weltweit trägt nach Schätzungen heute schon jedes dritte Schulkind zu viel Speck auf den Hüften.

Zu wenig gesunde Ernährung?

Nach einer Studie der Universität Mainz werden viele Kinder in Deutschland dick, wenn sie in die Schule kommen. Bis zu ihrem fünften Geburtstag wiegen die Kids zwar noch genauso viel wie vor 20 Jahren, in den darauffolgenden drei Jahren jedoch legen sie ordentlich zu, so die Forscher. Mit acht Jahren ist bereits jedes fünfte Kind zu dick und bleibt es bis zur Volljährigkeit.

Warum das so ist, weiß man noch nicht. Hier sind weitere Forschungen nötig, schließlich geht es um mehr als eine Kindheit als Dickerchen: Wer als junger Mensch zu viel auf die Waage bringt, tut dies oft lebenslang.

Initiativen kämpfen gegen Übergewicht

Es gibt eine Vielzahl von Initiativen und Projekte im Kampf gegen Übergewicht und Bewegungsmangel: Die Chinesen, Amerikaner und Engländer versuchen, die Kinder ihren Speck in der Schule abtanzen zu lassen.

Die Briten starteten vor ein paar Jahren ein Pilotprojekt, das sich an dem Wettbewerb „Strictly Come Dancing“ orientiert, der viele alte und junge Briten am Wochenende vor den Fernseher lockt. Sie wollen nach Angaben des zuständigen Ministeriums das „erste wichtige Land“ sein, das den Trend zum Übergewicht mit Sport und gesunder Ernährung trotzen will.

Bis 2020 soll die Zahl der Fettleibigen mit Walzer, Cha-Cha-Cha und Salsa auf den Stand des Jahres 2000 zurückgefahren werden.

Unterprivilegierte haben schlechte Chancen

Noch werden im Sportunterricht viel zu häufig ausgerechnet die Schwachen, Langsamen und Dicken wie von selbst aussortiert. Nur zu oft erleben ausgerechnet sie schmerzhafte Momente, wenn sie bei der Mannschaftsaufstellung bis zum Schluss auf der Bank sitzen bleiben müssen.

Eigentlich könnten aber genau diese Schüler am meisten vom Sportunterricht profitieren. Auch Sportwissenschaftler Stibbe hat beobachtet, dass es gegenwärtig im Prinzip zwei Schülergruppen gibt, „die mit umfangreicher Bewegungserfahrung, die im Verein ist oder informell Sport treibt wie Skaten oder so was, und die mit starker Bewegungsbeeinträchtigung.

Oft sind das Jugendliche, die auch sonst Nachteile im Bildungssystem erfahren. Mädchen mit Migrationshintergrund sind kaum im Sportverein aktiv“.

Fitness und Leistung ist nicht alles

Erschwerend komme hinzu, dass viele Sportlehrer selbst ambitionierte Sportler seien und ihr Hobby zum Beruf gemacht hätten, führt Claus Buhren, Leiter des Instituts für Schulsport und Schulentwicklung ebenfalls an der DSHS Köln, ins Feld.

Analog dazu setzten Pädagogen oft noch einseitig auf Leistung, statt individuelle Stärken zu fördern und Begeisterung für Bewegung an sich zu wecken. Sportunterricht – dabei denken nicht nur Erwachsene mit Grausen an Trillerpfeifen und militärischen Drill, blaue Matten vorm Barren und die Schülerschlange davor zurück.

Stibbe fordert: „Wir müssen es schaffen, das veraltete Bild vom Sportunterricht aufzubrechen. Dieser hat auch eine pädagogische Aufgabe: Er kann dazu beitragen, die Aufgaben von Schule insgesamt zu lösen und zwar auf der Ebene des Körpers. Dieser wurde in der abendländischen Kultur lange vernachlässigt, der Geist stand im Mittelpunkt.

Motivation für Sport und Bewegung

Was in der Schule nicht gelernt wird, kann später nur schwer vermittelt werden. Wenn es optimal läuft, schafft der Unterricht es, eine Motivation für Sport und Bewegung hinzukriegen, die ein Leben lang hält.“

Wie das funktionieren kann, zeigt das Programm PE4Life („Sport fürs Leben“) der Naperville Central High School im US-Bundesstaat Illinois: Hier wird Fitness statt Sport unterrichtet, und zwar täglich.

Die Schüler entwickeln nicht nur gesunde Lebensgewohnheiten, sportliche Fähigkeiten und Spaß an der Bewegung, sondern sie lernen auch, wie ihr Körper funktioniert: Bei körperlichen Aktivitäten tragen sie Pulsuhren, sie wissen genau um ihre vorgegebenen Zielwerte für Herzfrequenz, Körperfett und Blutdruck. Über deren regelmäßige Auswertung wird vermittelt, welche positiven Effekte Bewegung haben kann.

Maschinen für Aerobic

Die Sporthalle der High School sieht aus wie ein Fitnessclub. Es gibt auf die Bedürfnisse von Jugendlichen zugeschnittene Gewichtsmaschinen, riesige Kletterwände und an Konsolen angeschlossene Aerobic-Maschinen.

Zusätzlich wählen die Schüler aus Angeboten wie Kajakfahren, Bergsteigen oder Tanzen. So steigt die Chance, dass jeder etwas findet, was es ihm erlaubt, sich gut zu fühlen und adäquate Leistungen zu erreichen, lautet die Philosophie.

Lässt man einem Kind keine Wahl, und es darf nur Basketball spielen, was ihm nicht liegt, empfindet es dies als Strafe und wird damit später garantiert nicht weitermachen, da sind die Sportpädagogen sich sicher.

Mit neuem Ansatz zu mehr Motivation

Früher standen auch in Naperville Klimmzüge auf dem Stundenplan. Doch dann machten sich die Lehrer bewusst, dass weit über die Hälfte der Schüler schon an einen einzigen Klimmzug scheiterte und so im Unterricht als Versager dastand. Auch andere Inhalte wie die Mannschaftssportarten packten die Pädagogen auf den Prüfstand.

Diese, so das vernichtende Urteil, verdonnerten die meisten Schüler zur Untätigkeit. Logisch, man wartet, bis der Ball in die Nähe kommt oder man an der Reihe ist. Das kann dauern und die meiste Zeit steht man herum. Weniger als drei Prozent der Erwachsenen jenseits der 25 betreiben überhaupt einen Mannschaftssport, um fit zu bleiben, sagen Statistiken.

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Individuelle Herzfrequenzmessung

Also veränderte man an der Highschool die Regeln und verkleinerte die Mannschaften, damit sich alle mehr bewegen: Beim Fußball spielen jetzt vier gegen vier, beim Basketball drei gegen drei. Die Leistung wird auch hier individuell daran gemessen, wie lange der Schüler jeweils in seiner angepeilten Herzfrequenzzone bleibt.

Das Konzept geht auf. Die Naperviller Schüler sind körperlich fitter als amerikanische Durchschnittsschüler und auch Gewichtsprobleme sind selten.

Ebenso bei den Schulnoten haben die Kids aus Naperville die Nase vorn. Zu diesem Ergebnis kommt das Experiment „Zero Hour“, das hier ebenfalls als Testreihe gestartet und wissenschaftlich begleitet wurde:

Eine Gruppe von Schülern lief vor dem eigentlichen Unterrichtsbeginn um 8 Uhr – deshalb Stunde null – vier Runden auf der Aschenbahn und musste den Puls mindestens auf 185 bringen. Ergebnis? Im Unterricht konnten die Schüler anschließend ihre Leistungen selbst in den Fächern steigern, in denen sie eigentlich schwach waren.

Fitness bessert Noten

Sportkleidung anziehen, Laufschuhe schnüren, rausgehen, 30 Minuten joggen und ein bisschen schlauer zurückkommen? Joggen statt Formeln pauken oder Kopfrechnen? Da scheint was dran zu sein.

Eine ganze Reihe von neuen Studien belegt, wer Sport treibt, trainiert Körper und Geist. Forscher aus Schweden etwa kommen zu dem Schluss, dass zusätzlicher Sportunterricht nicht nur die motorischen Fähigkeiten von Kindern, sondern auch deren Leistungsfähigkeit und Schulleistungen bessert. „Die Unterschiede zwischen üblichem und erweitertem Sportunterricht sind signifikant“, betont Studienleiterin Ingegerd Ericsson.

Die Wissenschaftler begleiteten 220 schwedische Schüler über neun Jahre. Die eine Hälfte hatte jeden Tag Sportunterricht, die andere zweimal pro Woche. 96 Prozent der Intensiv-Sportler schafften die neun Pflichtschuljahre früher als die Kontrollgruppe mit 89 Prozent, wobei dieser Unterschied bei den Jungen mit 83 Prozent deutlicher ausfiel.

Leistungsfähigkeit korreliert mit Intelligenz

Die Sportgruppe schnitt zudem in Schwedisch, Mathematik, Englisch und Sport besser ab. 93 Prozent dieser Schüler wiesen zudem in der neunten Schulstufe gute motorische Fähigkeiten auf, was – eigentlich keine Überraschung – nur auf 53 Prozent der anderen Gruppe zutraf. Ebenfalls bei schwedischen Jugendlichen zeigte eine Vergleichsstudie mit 18 Jahre alten Zwillingen, dass die körperliche Leistungsfähigkeit eng mit der Intelligenz zusammenhing.

Je besser der Jugendliche trainiert war, umso höher dessen geistige Leistungsfähigkeit. Dabei könnten 15 Prozent auf Vererbung und 85 Prozent auf die körperliche Aktivität zurückgeführt werden, hieß es aus Stockholm.

Muskelarbeit aktiviert das Gehirn

Lange dachte man, Muskelarbeit könne die grauen Zellen schon aus biologischen Gründen nicht beeinflussen. Man ging davon aus, dass Durchblutung und Stoffwechsel im Gehirn quasi automatisch auf einem Level gehalten würden.

Heute weiß man, dass das Gehirn beim Sport besser mit Sauerstoff versorgt wird und schon deshalb mehr leisten kann. Beim Spazierengehen steigert sich die Durchblutung des Gehirns um 20 Prozent, bei mittlerer Belastung um 30 Prozent. Im Zuge der verstärkten Durchblutung werden auch vermehrt Proteine hergestellt und im Gehirn aktiv.

Viele dieser Proteine sind Wachstumsfaktoren und wirken wie Dünger fürs Hirn. Effekte, die tatsächlich auch die Hirnstruktur verändern, treten erst bei regelmäßigem Sport über längere Zeit auf.

Ohne Bewegung keine Entwicklung

Körperliche Bewegung festigt bestehende Hirnverbindungen und fördert die Bildung neuer Synapsen und Umbauentwicklungen. Leistungssportler beispielsweise hatten in bestimmten Bereichen deutlich mehr graue Hirnsubstanz als Sportmuffel, fanden Forscher der Universität Bochum heraus.

Möglicherweise spielen auch die mit der Bewegung verbundenen Erfahrungen eine Rolle für die Umbauprozesse. Das legt wiederum eine Studie der TU Dresden nahe: Bei Laborversuchen mit Mäusen erkannten die Forscher, dass die Gehirne von Tieren, die sich lange Zeit hinweg sehr aktiv bewegten, über die Jahre besser erhalten waren als die bei den weniger aktiven Mäusen.

Dass schon Bewegung an sich das Gehirn trainiert und die Neubildung von Hirnzellen beeinflusst, halten Wissenschaftler daher für plausibel. Schließlich ist diese schon beim Aufwachsen für die Entwicklung des Gehirns ein unverzichtbares Prinzip. Ohne Bewegung keine Entwicklung.




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